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Tagesförderung ohne Tagesstätte - kann das gehen?

Interview mit Wibke Juterczenka

Bild Tagesförderung ohne Tagesstätte - kann das gehen?
Verschiedene Tätigkeiten ausprobieren, Fähigkeiten einbringen und in Betrieben teilhaben. Ein In Betrieb Beschäftigter holt in einer städtischen Immobiliengesellschaft einmal wöchentlich Kopierpapier Nachschub aus dem Lager und füllt die Regale in den Kopierräumen auf. In der Pause hält er einen Schnack mit den Mitarbeitenden des Betriebs.

 20. Juni 2023 | Textbeitrag

  Haltung, Wahlfreiheit und Selbsbestimmung, Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf, Weiterentwicklung der beruflichen Teilhabe, Im Gespräch mit...

Ambulante Betreuung am Arbeitsplatz ist mittlerweile Normalität. Jobcoachs begleiten ihre Klienten in Betriebe, die Werkstattleistung wird „virtualisiert“. Ist so etwas auch für Tagesstätten denkbar? Lässt sich die Tagesförderleistung in einer 1:1-Situation außerhalb der Einrichtung erbringen? Leben mit Behinderung Hamburg erprobt diese Idee seit fünf Jahren. Mit Erfolg. Aus dem Modellprojekt wird jetzt ein Regelangebot, die Platzzahl von 22 auf 60 Plätze ausgeweitet. Für wen das Angebot gedacht ist, was es beinhaltet, wie es abläuft, wieviel Betreuungsstunden es umfasst und was es kostet, lesen Sie in unserem KK-Interview mit Projektleiterin Wibke Juterczenka.

53° NORD: Frau Juterczenka, Sie bezeichnen Ihr Projekt In Betrieb als eine »Mobile Tagesförderung«. Was ist darunter zu verstehen?

Wibke Juterczenka: Mobil heißt, dass Klienten und Unterstützer*innen in der Regel ausschließlich außerhalb der Tagesstätte unterwegs sind. Die Idee stammt vom Institut für Sozialdienste in Vorarlberg und wir haben sie 2018 übernommen. Wir haben uns gefragt: Kann es eine Alternative zur teilstationären Tagesförderung geben, wie sie bisher üblich ist? Sodass Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf nicht ausschließlich in eine Tagesförderstätte gehen können, sondern dass sie außerhalb einer Einrichtung und im betrieblichen Kontext unterstützt werden. Das gibt es bisher nicht. Leben mit Behinderung Hamburg bietet den Tagesstättenbeschäftigten ja schon seit Langem das Angebot »Auf Achse«. Beschäftigte gehen stundenweise in einer Kleingruppe in unterschiedliche Betrieben arbeiten. An diese Erfahrungen knüpft In Betrieb an.

Was die »Mobile Tagesförderung« beinhaltet

Wie läuft diese Mobile Tagesförderung ab?

Mitarbeitende der Tagesstätten holen die Beschäftigten von zu Hause ab, also in der Wohngruppe oder bei ihren Angehörigen, sind mit ihnen ein paar Stunden unterwegs, unternehmen mit ihnen unterschiedliche Dinge, die sonst innerhalb von Tagesstätten stattfinden und bringen sie dann wieder nach Hause. Es gibt keinen zentralen Standort. Alles, was sonst innerhalb der Tagesstätte stattfindet, wird jetzt im Sozialraum organisiert. Wir gestalten die »Leistung Tagesförderung« insbesondere mit der Blickrichtung Arbeit. Allerdings geht es um Arbeit im erweiterten Sinn, ohne Zeit- und Leistungsdruck. Wir schauen: was kann ein Angebot sein, das den Beschäftigten gefällt? Wo halten sie sich gerne auf, wo können sie etwas beitragen? Wie ergeben sich Kontakte? Und das findet dann an Orten des allgemeinen Arbeitslebens statt. In Betrieben, in Vereinen, in anderen sozialen Einrichtungen, in denen sie unterschiedliche Aufgaben übernehmen können.

Können Sie ein paar Beispiele nennen?

Ein Klient arbeitet beispielsweise in einem Bürogebäude bei einer Immobiliengesellschaft. Dort füllt er Kopierer auf, leert Altpapierkörbe, macht dann Pause in der Teeküche und trifft dort die Mitarbeitenden. Ein anderer Klient arbeitet einmal in der Woche in einem Kulturgarten, gießt Beete, mäht mit Unterstützung Rasen. Ein Klient geht in eine Autowerkstatt, gießt dort die Zimmerpflanzen, schreddert Altakten und hilft die Werkzeughalle zu fegen. Auch Botengänge sind dabei, ganz unterschiedliche Tätigkeiten.

Die »Leistung Tagesförderung« umfasst ja mehr als Arbeit. Welche anderen Inhalte gibt es?

Manchmal beginnen wir im eigenen Wohnraum, dann bringen wir Arbeitsanteile aus den Tagesstätten mit. Es können aber auch Beschäftigungen aus der arbeitsfreien Zeit sein: Bewegungsangebote wie lange Spaziergänge, Bus- und Bahnfahrten, einkaufen, kochen, Teacch-Aufgaben, Gesellschaftsspiele. Wir machen auch viele Bildungsangebote im Sinne unserer Berufsbildung »Feinwerk«: Wir machen Ausflüge, gehen z.B. mit den KlientInnen in Museen, nutzen Bildungsangebote, die die Tagesstätten extern machen usw. Außerdem begleiten wir zu therapeutischen Angeboten und übernehmen die notwendigen Pflegeleistungen. Wir unterstützen in psychischen Krisen, stellen Stabilität her, um Menschen in die Lage zu versetzen, überhaupt wieder über Arbeit nachzudenken. Wir geben die Möglichkeit, Erfahrungen in unterschiedlichen Kontexten und unterschiedlichen Orten zu sammeln. Es ist sehr vielfältig, je nachdem, welches Interesse die Beschäftigten zeigen und was sie gerade brauchen. Und immer mit der Idee im Hinterkopf, welche Beschäftigung könnte dem Menschen guttun und gefallen.

Wie bewegen sich die Beschäftigten und ihre Begleiter:innen in der Stadt?

Die Angebote sind so angelegt, dass sie zu Fuß oder mit öffentlichem Nahverkehr erreicht werden können. Jetzt haben wir auch angefangen, den Verkehrsdienstleister MOIA zu nutzen. Er ist für Menschen mit Schwerbehinderung jetzt kostenlos nutzbar. Da kann man dann auch größere Strecken innerhalb der Stadt zurücklegen.

Was ist der zeitliche Umfang?

In Betrieb findet überwiegend in 1:1-Begleitung statt. Kleingruppen sind eine Herausforderung, das ist uns bisher noch nicht gelungen. Es müssten sich Klient:innen finden, die das gleiche Angebot wollen und die räumlich nah beieinander wohnen. Die Begleitung ist bisher begrenzt auf neun Stunden in der Woche. In den Tagesstätten haben wir einen Schlüssel von 1:3,4 bei 30 Stunden Betreuungszeit pro Woche. Wenn diese in 1:1-Begleitung stattfindet, sind es entsprechend weniger Stunden.

Neun Stunden pro Woche erscheint ja sehr wenig…

Auf den ersten Blick ja. Oft zeigt sich aber auch, dass das Angebot von Menschen wahrgenommen wird, die gar nicht sehr viel mehr Stunden in Anspruch nehmen können. Es reicht ihnen aus in diesem Umfang. Es sind aber auch Menschen dabei, für die das zwar zu wenig ist, die aber in einer Gruppe mit einem vollen Tag auch überfordert wären. Leben mit Behinderung Hamburg verhandelt gerade eine eigene Leistungsvereinbarung für In Betrieb, die voraussichtlich ab 2024 gelten wird. Dies wird uns etwas mehr Spielraum in der Gestaltung des Stundenumfangs geben. Es wird aber ein Teilzeitangebot bleiben, auch weil hohe Stundenzahlen eine organisatorische Herausforderung darstellen.

Wenn die Betreuung nur neun Stunden pro Woche beträgt, gibt es ja ein Problem mit der restlichen Betreuungszeit. Wer übernimmt die?

Das ist der Haken an der Sache. Das leistet das Wohnumfeld, also Angehörige, wenn die Menschen bei ihnen leben oder die Wohngruppen. Das ist eine Herausforderung. Allerdings waren viele der Menschen, die In Betrieb nutzen, lange Zeit ganz ohne Tagesförderung, weil sie aus Einrichtungen verwiesen wurden oder aufgrund von herausfordernden Verhaltensweisen erst gar nicht dort aufgenommen wurden. Oder weil sie das Haus nicht verlassen haben, nicht in den Bus eingestiegen sind und ähnliches. Dann ist In Betrieb ein Anfang, um überhaupt wieder in eine Struktur zu kommen. Aber es ist an vielen Stellen zu wenig. Es gibt deshalb auch einzelne Beschäftigte, bei denen wir mehr Stunden leisten, aus dem Hamburger Trägerbudget heraus. Das gibt uns etwas Flexibilität.

Wer das Angebot nutzt und wer es begleitet

Wer nimmt In Betrieb in Anspruch?

Grundsätzlich wollen wir Wahlmöglichkeiten schaffen. Integration darf nicht nach der Schulzeit enden! Das Angebot steht allen Menschen zur Verfügung, die eine Bewilligung für Tagesförderung bekommen. So ist es gedacht. Es zeigt sich aber, dass es vor allem von Menschen wahrgenommen wird, die im Moment nicht in einer Gruppe sein können oder wollen. Die von Lautstärke überfordert sind oder sagen, ich möchte nicht in einer Tagesstätte arbeiten. Ein Drittel der In Betrieb Beschäftigten kommt aus dem Autismus-Spektrum. Dann sind Personen dazwischen, die Grenzgänger zwischen Werkstatt und Tagesförderung sind, die nicht in die Tagesstätte wollen, aber die von der Werkstatt abgelehnt wurden. Menschen mit einer Lerneinschränkung und einer psychischen Erkrankung beispielsweise. Es ist also sehr bunt: Personen, die im bisherigen System durchs Raster fallen und mit denen wir gemeinsam auf die Suche gehen, was ein guter Ort und ein gutes Angebot sein könnte.

Wieviele Teilnehmer:innen haben Sie im Moment in In Betrieb?

Im Moment sind es 22 Plätze, alle sind besetzt. Sie werden begleitet von sechs unterschiedlichen Standorten, verteilt auf ganz Hamburg. Ab August kommt eine siebte Tagesstätte dazu.

Haben die Klient:innen ein festes Wochenprogramm?

Jeder In Betrieb-Beschäftigte hat feste Zeiten, die sich nur minimal verschieben. Um dies zu gewährleisten, gibt es ein Vertretungssystem: bei jeder/m Klientin/en sind drei bis vier Mitarbeitende eingearbeitet, so dass sie sich gegenseitig vertreten können. Die Klient:innen wissen, wer jeweils kommt, es sei denn jemand muss kurzfristig ersetzt werden. Und wenn Kooperationspartner:innen ins Spiel kommen, dann gehen die gleichen Klient:innenen immer auch zu den gleichen Arbeitsangeboten oder haben zu den gleichen Zeiten ihre therapeutischen Angebote. Das sind tatsächlich feste, wiederkehrende Abläufe, die auch in den Dienstplänen der Mitarbeitenden enthalten sind: Nicht nur, wann sie zu wem müssen, sondern auch wo sie die Klient:innen hin begleiten und was dort getan wird.

Wer übernimmt die Begleitung?

Die übernehmen Mitarbeitende der jeweiligen Tagesstätten-Standorte im Einzugsgebiet der Klient:innen. Die In Betrieb Plätze kommen zu den internen Tagesstättenplätzen hinzu und damit auch der entsprechende Personalanteil. Die Mitarbeitenden begleiten sowohl im Rahmen von In Betrieb als auch in den Gruppen. Es zeigt sich, dass es für sie interessant und entlastend ist, wenn sie mal im Team arbeiten können und mal Einzelbetreuungen begleiten.

Sind das alles Fachkräfte?

Wir haben einen Mix aus Fachkräften (Heilerziehungspfleger:innen, Erzieher:innen, auch mal Sozialpädagog:innen), aber auch Assistenzkräfte, also Mitarbeitende ohne pädagogische Qualifizierung, die aber fest angestellt sind. Personen im Freiwilligen Sozialen Jahr setzen wir nicht ein in diesem Angebot.

Ist es schwer, für In Betrieb Begleiter:innen zu finden?

Wie die Eingliederungshilfe insgesamt leiden wir unter Personalmangel. Es ist schwer, Personal zu finden. Das hat aber unserer Erfahrung nach nichts mit dieser Form der Begleitung zu tun. Im Gegenteil. Die Mitarbeitenden berichten, dass sie es schätzen, eine Abwechslung zu haben zwischen der Arbeit in der Gruppe und der 1:1-Begleitung. Im Rahmen von In Betrieb haben wir es schon auch mit herausforderndem Verhalten zu tun und wir müssen gut dafür sorgen, dass die Mitarbeitenden Austausch und Nachsorge haben, wenn es einen Vorfall oder dauerhafte Krisen von Klient:innen gibt. Und es gibt Mitarbeitende, die sich dagegen entschieden haben, weil sie es allein im Sozialraum oder öffentlichen Nahverkehr mit jemandem unterwegs sein, der in eine Krise gerät, zu herausfordernd finden. Aber überwiegend geben die Mitarbeitenden positive Rückmeldungen zu der Art und Weise, hier pädagogisch arbeiten zu können, sich mal eine Weile nur auf einen Menschen konzentrieren zu können.

Sie sagen, Sie haben pro Person mehrere Begleiter:innen eingearbeitet. Wechseln diese sich regelmäßig ab?

Wir haben pro Tagesstätte sechs In Betrieb-Klient:innen. Dann haben wir in der Regel die gleiche Anzahl an Mitarbeitenden und bei jedem Klienten drei bis vier, manchmal fünf Mitarbeitende eingearbeitet und die wechseln sich ab. Oft kristallisieren sich feste Wochentage heraus. Aber wir achten darauf, dass Mitarbeitende bei Menschen, bei denen es unter Umständen aufgrund herausfordernder Verhaltensweise auch sehr anstrengend ist, nicht zweimal hintereinander in einer Woche eingesetzt werden, um auf beiden Seiten Beziehung zu entlasten. Das ist sowohl für die Klient:innen hilfreich, wenn jemand neu startet und nicht vom vorherigen Termin belastet ist, als auch für die Mitarbeitenden, die das einmal in der Woche gut aushalten und gut begleiten können und dann aber auch wieder etwas Anderes mit einem anderen Klienten machen können.

Ist es kein Widerspruch, wenn Menschen in der Tagesstätte nicht »gemeinschaftsfähig« sind, dann aber, zumindest stundenweise, in einem Betrieb arbeiten? Was ist dort anders?

Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt Menschen, die zunächst ein Angebot im eigenen Wohnraum erhalten haben, weil sie in einer tiefen Krise steckten und es gar nicht möglich war, gemeinsam das Haus zu verlassen. Und es gibt Menschen, die in Tagesstättengruppen nicht sein können, aber in regulären Strukturen sehr gut zurecht kommen, etwa im öffentlichen Nahverkehr oder an Orten des allgemeinen Arbeitslebens. Die in der Regel nicht selbst gewählte Gruppe und für sie schwer einschätzbare Verhaltensweisen anderer sind es, was ihnen Schwierigkeiten macht. Andere Orte bieten da manchmal geeignetere Bedingungen.

Das Setting ist ja hier auch ein anderes. Sie haben eine Einzelbegleitung, eine Person nur für sich.

Das stimmt, das kann eine Tagesstätte oft nicht gewährleisten. Alle Einrichtungen geben sich wahnsinnig Mühe, immer auch Einzelnen individuelle Zeit zur Verfügung zu stellen, aber dem sind Grenzen gesetzt. Und sobald es z.B. laut wird und Mitarbeitende nicht an der Seite einer einzelnen Person sein kann, treten Schwierigkeiten auf. Im Format von In Betrieb kann das ganz gut funktionieren, eine Garantie ist es aber nicht.

Was das Angebot beabsichtigt und was es bei den Nutzer:innn bewirkt

Ist das Ziel, dass die Menschen »tagesstättenfähig« werden? Gilt In Betrieb als Training und als Übergang, oder ist es ein eigenständiges und gleichwertiges Angebot?

Es ist nicht als Trainingsangebot konzipiert. Wir gehen ergebnisoffen heran. Es gibt natürlich Situationen, bei denen Familien hoch belastet sind und klar ist: Da muss mehr Betreuungszeit her als diese neun Stunden. Das reicht auf Dauer nicht aus. Dann versuchen wir schon Möglichkeiten zu finden und gemeinsam darauf hinzuarbeiten. Aber wir schauen auch: Was passt zu dem Menschen, wo möchte er hin? Es gibt Menschen, die machen das jetzt schon von Beginn an, also seit fünf Jahren, und sind total zufrieden damit. Das Umfeld hat sich darauf eingestellt und kommt gut zurecht. Es gibt auch Beschäftigte, die haben von sich aus Übergänge in Tagesstätten eingefordert. Wir können in diesem Format Menschen immer auch einzelne Stunden in einem Praktikum begleiten. Sonst ist es schwierig, jemandem ohne eine Begleitung und dann womöglich gleich ganze Tage oder Wochen ein Praktikum zu ermöglichen. Wir versuchen da wirklich flexibel zu sein. Wir machen lange Praktika, ziehen Stunden zusammen, damit man länger was ausprobieren kann. Ein Klient hat für einen Tag die In Betrieb-Betreuung und ist die restliche Zeit bei einem anderen Träger in der Tagesstätte - solange bis er da stabil ist und wir uns rausziehen können. Wir haben Klient:innen, die auch bei uns zwei Tage in die Tagesstätte gehen und ein oder zwei Tage zusätzlich Begleitung erhalten, weil es für sie eine gute Kombination ist. Wir versuchen, Grenzen zwischen den Angeboten ein wenig aufzubrechen und auch, an Trägergrenzen zu rütteln und die Leistung so flexibel zuzuschneiden, wie der Mensch es braucht und nicht, wie das System es vorgibt.

Das heißt, Sie stellen auf allen Ebenen Durchlässigkeit her.

Genau. Wir vernetzen uns mit anderen Leistungen. Wir arbeiten gut mit den Sozialen Diensten zusammen, die Pädagogische Hilfe im eigenen Wohnraum leisten, mit Therapeut:innen, mit Wohneinrichtungen usw. Und wir versuchen, eine Gesamtwochenstruktur zu stricken, damit diese nicht reduziert ist auf neun Stunden, sondern es noch andere Programmpunkte in der Woche gibt.

Wie nehmen die Teilnehmer:innen von In Betrieb das Angebot an? Was bringt das für sie?

Erstmal ist das für die Beschäftigten ein Gewinn. Es sind oft Menschen, die lange ohne Angebot im Bereich Teilhabe an Arbeit oder Tagesförderung gewesen sind. Ich bin immer wieder überrascht, wenn ich mit den Mitarbeitenden rede oder Dokumentationen lese, welch große Wirkung diese geringe Anzahl von Stunden hat. Das ist eine sehr intensive Zeit, die die KlientInnen mit den Mitarbeitenden verbringen, in der es wirklich nur um sie und das geht, was sie können, was sie wollen und was sie gerade brauchen. Das ist toll, finde ich. Es braucht eine Menge Reflektion aufseiten der Teams, gerade weil die Kolleg:innen überwiegend alleine unterwegs sind. Jeden Tag ist jemand anderes bei den Klient:innen, da braucht es viel Abstimmung und Austausch, um die Klient:innen gut zu unterstützen. Aber das funktioniert gut. Ich habe den Eindruck, dass die Beschäftigten enorm davon profitieren und tolle Entwicklungsschritte machen. Jeder auf seine Art und Weise und nicht immer in die Richtung, in die wir das vielleicht dachten. Und es macht sie stark. Man merkt das z.B. am Selbstbewusstsein und an der Selbstverständlichkeit, in der sie die Angebote wahrnehmen, in der sie sich im öffentlichen Raum bewegen, wie sie Situationen aushalten, die sie vorher gemieden haben usw.

Die Sicht der Betriebe und des Kostenträgers

Ist es schwer, Arbeitsmöglichkeiten für diesen Personenkreis zu finden? Für Menschen, die als eher arbeitsmarktfern gelten?

Wir haben ja mit »Auf Achse« lange Übung. Das machen wir schon seit 13 Jahren. Wir haben viele Kooperationspartner:innen und können für Menschen im Rahmen von In Betrieb bestehende Kooperationen nutzen, damit sie mal niedrigschwellig und zunächst unverbindlich reinschnuppern und etwas ausprobieren können. Oder wir nutzen Kooperationen doppelt: An einem Tag durch Auf Achse, am anderen Tag im Rahmen der Einzelbetreuungen. Aber man findet auch gut neue Betriebe und neue Aufgaben.

Wie reagieren die Betriebe auf die besonderen Mitarbeitenden?

Beide Seiten kommen gut miteinander zurecht. Das Einzige, was Betriebe nicht gut finden, ist eine Unzuverlässigkeit in der Wahrnehmung der Angebote. Wenn Termine nicht abgesagt werden oder öfter ausfallen. Damit können sie nicht gut umgehen und das gilt es zu vermeiden. Aber damit, die Menschen am Betriebsleben und an Arbeit teilhaben zu lassen, haben sie in der Regel überhaupt keine Schwierigkeiten. Berührungsängste merkt man wenig. Man muss natürlich gucken, an welchem Ort ein Mensch sich gut aufhalten kann. Wenn sich jemand viel bewegen möchte, dann ist er in einem engen Bürogebäude nicht richtig aufgehoben. Wenn jemand eine ruhige Umgebung braucht, dann suchen wir keinen Arbeitsplatz am Hauptbahnhof. Aber wenn man die Gegebenheiten des Betriebs und den Bedarf des Menschen gut zusammenbringt, dann funktioniert das gut.

Wie haben die Kostenträger auf diese für sie ja sehr ungewöhnliche Idee reagiert?

Die Hamburger Sozialbehörde war grundsätzlich offen. Die Maßgabe war, dass das Ganze nicht mehr kosten darf als ein regulärer Tagesstättenplatz. Deswegen eben auch diese reduzierte Stundenzahl. Daran haben wir uns gehalten und die Klient:innen brauchen mit Ausnahme derer, die einen Kombiplatz haben, in der Regel auch keine Beförderung mit dem Fahrdienst, was ein großer Kostenfaktor ist. Wir haben mit der Sozialbehörde 2018 die Vereinbarung getroffen, dass wir im Rahmen der bestehenden Leistungsvereinbarung für Tagesstätten diese Form der Tagesförderung ausprobieren und durchführen können und haben regelmäßig berichtet, wie es funktioniert, wie weit wir sind. Anfangs war es eine Erprobungsphase und jetzt soll es dazu eine separate Vereinbarung geben.

Das heißt, die neun Stunden kosten genauso viel, wie in der Tagesstätte 30 Stunden kosten? Bezogen auf die Betreuungsstunde ist es ja relativ teuer.

Genau, bezogen auf die Personalkosten. Es gibt keine Fachleistungsstunden. Es ist eine Pauschale zugrunde gelegt und bisher in diesem Rahmen geblieben. Das wird auch mit einer eigenen Leistungsvereinbarung so sein.

Wie ist denn der Bedarf für dieses Angebot? Werden Sie das Angebot noch ausweiten?

Der Bedarf ist da. Es gibt in Hamburg weniger Tagesstättenplätze als gebraucht werden. In Betrieb ist eine zusätzliche Möglichkeit, die auch dazu dient, Menschen kurzfristig mit einem Anteil an Stunden zu versorgen und gemeinsam gezielt auf die Suche zu gehen, bis es einen vollständigen Tagesstättenplatz gibt. Wir werden In Betrieb ausbauen. Pro Tagesstättenstandort – zwei Standorte klammern wir aus – planen wir bis zu sechs Plätzen. Das ist eine Größe, die organisatorisch händelbar ist. Es ist viel Organisationsaufwand für die Leitungskräfte und ein großer Kommunikationsaufwand zwischen den Mitarbeitenden. Es braucht Dienstbesprechungsstrukturen und ähnliches. Dabei haben wir festgestellt, dass eine Einheit von sechs Klient:innen pro Haus machbar ist. Das wollen wir nicht überschreiten.

Wieviel Plätze haben Ihre Tagesstätten?

Zwischen 21 und über 50, eine Tagesstätte mit zusätzlichem Seniorenangebot. Insgesamt haben wir rund 380 Plätze in 12 Häusern, auf das ganze Stadtgebiet verteilt.

Gibt es Interesse aus anderen Regionen für dieses Modell und wie steht es um die Übertragbarkeit?

Wir haben bisher wenig informiert oder Werbung gemacht. Unsere Plätze werden an Menschen vergeben, die ohnehin auf den Wartelisten stehen. Um Interessent:innen müssen wir nicht werben. Vereinzelt haben wir jetzt begonnen, bei Fachtagungen darüber zu berichten, aber nur in kleinem Rahmen. Wir mussten selbst erst einmal herausfinden, ob und wie diese Struktur dauerhaft funktionieren kann. Jetzt sind wir sicher, dass wir In Betrieb dauerhaft etablieren wollen und werden auch in unterschiedlichen Formaten davon berichten. Klar ist: Es braucht Mut und strukturelle Veränderung. Mobile Tagesförderung ist organisatorisch aufwändig und für alle spürbar. Man muss sich flexibel aufstellen. Wir freuen uns, wenn weitere Träger eine vergleichbare Form der Tagesförderung umsetzen.

Für Sie ist das also eine gute Ergänzung zu Ihrem übrigen Angebot?

Eine Ergänzung und eine Weiterentwicklung. Es ist an der Zeit, auch Menschen mit schweren Behinderung nicht ausschließlich auf ein Angebot innerhalb einer Einrichtung festzulegen, sondern ihnen eine Wahl zu lassen. Und es ist ein Angebot für Personen, die bisher durchgerutscht sind.

Vielen Dank, Frau Juterczenka.

Unter dem Titel In Betrieb - eine »mobile Tagesförderstätte« bietet 53° NORD am 26. Oktober 2023 einen Einblick in die Praxis an.

Bei der Online-Veranstaltung stellt Frau Juterczenka das Angebot vor und beantwortet Fragen.

Weitere Infomationen und Anmeldemöglichkeit finden Sie hier.

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