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Vermittlungsquoten der Werkstätten

Berechnungen sind nur bedingt aussagekräftig

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Reinhard Saal

 07. Mai 2024 |  Reinhard Saal | Textbeitrag

  Werkstätten, Kostenfreie Artikel, Gastbeitrag, Kommentar

Eine magere Bilanz: So beurteilen KritikerInnen des "Systems der Werkstätten" die geringe Quote der Vermittlungen in Ausbildungs- und Arbeitsverhältnisse. "Übergangsquoten von unter 1 % der Werkstattbeschäftigten" nannte etwa Werner Schlummer 2023 in einem Beitrag über die Zukunft der Werkstätten. Die Aussagefähigkeit solcher Berechnungen und Schätzungen ist jedoch problematisch.

Zwei aktuelle Beispiele:

1. Eine "Vermittlungsquote von 0,254 Promille" nennt Hubert Hüppe, früherer Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen und entschiedener Werkstatt-Gegner. Er berechnet diese Quote anhand der Belegung von "Pflichtplätzen in der Erwerbswirtschaft mit ehemaligen Beschäftigten aus Werkstätten". Laut Hüppe waren das 2017 nur 71 Personen in der gesamten Bundesrepublik! Im selben Jahr zählten die Werkstätten 289.842 Beschäftigte.

Diese Angabe ist nicht nur als "Vermittlungsquote" falsch: Sie ist eher eine Bestands- oder Belegungsquote. Nur 71 vermittelte Personen bundesweit, das widerspricht jeder Evidenz. Offenbar fehlt bei dieser Zahl ein großer Teil der Werkstatt-KlientInnen. Beschäftigte in kleineren Betrieben ohne Pflichtplätze für schwerbehinderte Menschen werden nicht mitgezählt. Bei den "Betriebsintegrierten Beschäftigungsplätzen" der Hessischen Werkstätten etwa sind Betriebe mit weniger als 20 Mitarbeitenden der größte Beschäftigungsgeber – das betrifft über 40 Prozent aller BIB. Zudem werden möglicherweise nicht alle Mitarbeitenden aus Werkstätten zur Anrechnung auf Pflichtplätze gemeldet. Manche Firmen haben diese Plätze belegt und stellen trotzdem KlientInnen aus Werkstätten ein.

2. Völlig andere Zahlen ermitteln die AutorInnen in einem Forschungsbericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales im Jahr 2023 aus einer Befragung von 311 Werkstatt-Leitungen: Von 159.857 KlientInnen im Eingangsverfahren, Berufsbildungsbereich und Arbeitsbereich der ausgewählten Werkstätten wechselten 2019 insgesamt 504 Personen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Doch auch die hieraus berechneten Vermittlungsquoten sind problematisch: Jährliche Vermittlungszahlen mit Belegungszahlen zu vergleichen, die sich im Arbeitsbereich über ein halbes Jahrhundert entwickelt haben, macht keinen nachvollziehbaren Sinn.

Einwände gegen die Vermittlung ausräumen

Im Vorfeld der Vermittlung müssen vielfältige Bedenken und Einwände der KlientInnen, ihrer Eltern und BetreuerInnen sowie der Firmen ausgeräumt werden. Und das "Wohlwollen" weiterer AkteurInnen ist auch erforderlich: Werden Förderanträge abgelehnt, verweist die Agentur für Arbeit KlientInnen gelegentlich an die Werkstatt zurück. Sporadisch "intervenieren" selbst Werkstatt-AkteurInnen gegen eine Vermittlung. In meiner Berufspraxis ist mir das in 35 Jahren mehrfach begegnet. Solche Fälle sollten systematisch gesammelt werden: Die BAG WfbM könnte dafür eine Meldestelle oder ein Meldeportal einrichten.

Im BMAS-Forschungsbericht von 2023 heißt es, dass 2019 "63 Personen [...] aus dem allgemeinen Arbeitsmarkt in die WfbM zurück(kehrten)". Die Summe aller aufgelösten Arbeitsverhältnisse dürfte jedoch höher liegen. Um die Vermittlung in Arbeit und die Auflösung von Arbeitsverhältnissen ins Verhältnis setzen zu können, wären vergleichende Verbleibstudien erforderlich, wie sie Stefan Doose, Professor für Integration und Inklusion, schon vor 20 Jahren erstellte. Seine Daten zeigten, dass früh aufgelöste Arbeitsverhältnisse von aus der WfbM vermittelten Menschen eher seltener sind als die bei anderen Arbeitsverhältnissen.

Im Vermittlungsprozess müssen die Werkstatt-Fachdienste zwar eine Täuschung über die Qualität des Arbeitsverhältnisses vermeiden. Die integrativen Ressourcen externer Arbeitswelten kann das WfbM-Personal jedoch nur begrenzt beurteilen. Einen Arbeitsvertrag zu schließen, liegt in der Verantwortung der Vertragsparteien. Damit endet die Zuständigkeit der Werkstätten und geht gegebenenfalls an die Fachdienste der Integrationsämter über.

Vermittlungsquote als Verlaufsergebnis

Aus Sicht der KlientInnen sind die Verläufe wesentlich und nicht der Bezug auf die Belegung der Werkstatt. Es geht um die Vermittlungschancen und die Teilnahmedauer von der Aufnahme bis zum möglichen Übertritt in ein Arbeitsverhältnis. Zur Annäherung an Verlaufsergebnisse ließe sich die Relation von Neuaufnahmen und erreichten Arbeitsverträgen pro Jahr ermitteln. In Hessen sieht es so aus: Von 2012 bis 2022 wurden jährlich durchschnittlich 44 Personen in Arbeits- oder Ausbildungsverhältnisse vermittelt – mit einer Schwankungsbreite von ±10, ohne erkennbaren Trend.  

Die Belegung des Eingangsverfahrens und des Berufsbildungsbereichs, die zusammen üblicherweise 27 Monate umfassen, lag im genannten Zeitraum bei durchschnittlich 1.963 Personen. Über EV und BBB müssten jährlich 872 Personen (1.963 x 12:27 = 872) in die Hessischen Werkstätten gekommen sein.

Daraus würde sich eine mittlere Quote von etwa fünf Prozent errechnen.

Der tatsächliche Wert wird etwas niedriger sein: Denn einige KlientInnen gelangen schneller als nach 27 Monaten in den Arbeitsbereich. Außerdem gibt es, gerade in den ersten Monaten, eine Fluktuation, für die keine Daten vorliegen. Und vor 2012 war die Belegung der Werkstätten nicht stabil. Wie viele "Altfälle" unter den Vermittlungen waren, ist nicht bekannt.

Vermittlungschancen hängen von vielen Faktoren ab

Solche Vermittlungsquoten sagen ohne eine Bewertung der Vermittlungschancen wenig über die Leistung der Werkstätten aus. Die Chancen hängen ab von Konjunktur, regionaler Lage, Arbeitslosenquote, gesetzlichen Regelungen zum Beispiel zu Mini-Jobs, auch von lokalen Gegebenheiten und vor allem von der Klientel. Sie sind in jedem Fall extrem heterogen. Wie viele Menschen aus WfbM mit welcher Unterstützung in einem "normalen" Betrieb arbeiten wollen und können und welche individuellen Arrangements sich in eine betriebswirtschaftliche Rationalität fügen, ist zumindest nicht unmittelbar evident.

Vermittlungschancen sind nur am praktischen Erfolg abzulesen: Für die Weiterentwicklung der beruflichen Teilhabe wäre daher zu prüfen, ob es Konzepte und Organisationsformen gibt, mit denen es systematisch gelingt, über Durchschnittswerte hinaus zu kommen.

Seit 2010 sind alle Werkstätten verpflichtet, Assessments für ihre Klientel durchzuführen. Sie sollen Anhaltspunkte für die "passgenaue" Platzierung von KlientInnen liefern. Die Gültigkeit der Ergebnisse solcher Assessments ist jedoch zweifelhaft: Die individuellen Fähigkeitsprofile haben eine geringere Bedeutung für den Vermittlungserfolg, als die Motivation der KlientInnen. Der Zugang zu den Arbeitswelten kann niemals passgenau sein. Er hängt immer auch von der "Beziehungs-Chemie" ab, die sich am Arbeitsplatz entwickelt. In der Praxis können vielfältige unvorhersehbare Einflüsse die Resultate der Assessments auf den Kopf stellen, und zwar nicht nur extern, sondern auch bei der internen Platzierung von KlientInnen in verschiedenen Arbeitsgruppen.

In der Förderung einer individuellen Berufswahl geht es darum: zu motivieren, Angst abzubauen, Neugier zu wecken und berufliche Welten probeweise zugänglich zu machen.


Weiterführende Links

Stefan Doose: Was kommt nach der Werkstatt? In: BAG-UB, Impulse - Fachmagazin der BAG UB, Heft 34 - Schwerpunkt: Übergang WfbM

Stefan Doose: Was kommt nach der Werkstatt? In: BAG-UB, Impulse - Fachmagazin der BAG UB, Heft 35 - Schwerpunkt: Nach der WfbM

Gerhard Längle: Die berufliche Entwicklung schizophrener Patienten im Jahr nach Entlassung aus der Klinik. In: Aktion Psychisch Kranke e.V.

Reinhard Saal: Rehabilitation in der beruflichen Alltagswelt für Menschen mit psychischer Erkrankung. Manuskript für das Eröffnungsreferat zur Jahrestagung von 53° Nord

Reinhard Saal: Belegung der Werkstätten für behinderte Menschen 2007 – 2022.
Eine Zusammenstellung von Daten der BAB:WfbM und des LWV-Hessen.

Werner Schlummer: BVE - Erfolgreiche Vermittlung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. In: Schachler/Schlummer/Weber (Hrsg.): Zukunft der Werkstätten. Perspektiven für und von Menschen mit Behinderung zwischen Teilhabe-Auftrag und Mindestlohn.

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