Artikel

Mehr Gestaltungsspielraum für Werkstätten für psychisch behinderte Menschen?

Die gpe in Mainz definiert Problemfelder und entwickelt Lösungsansätze

Bild Mehr Gestaltungsspielraum für Werkstätten für psychisch behinderte Menschen?

 12. November 2024 | Textbeitrag

Brauchen Werkstätten für Menschen mit einer psychischen Behinderung mehr Freiheit in der Strukturierung und Ausgestaltung ihres Angebots? Sollte das Prinzip der "Einheitlichkeit der Werkstatt", welches in § 1 der Werkstättenverordnung festgelegt ist, partiell aufgehoben werden? Die Forderung nach mehr Gestaltungsspielraum gibt es, seit die Leistungsträger in den 90er Jahren spezielle Werkstätten für diesen Personenkreis zugelassen bzw. ihre Gründung ausdrücklich gefördert haben.

Jetzt hat die gpe, die Gesellschaft für psychosoziale Einrichtungen in Mainz, sich in einem Workshop mit der Weiterentwicklung ihres Werkstattangebots beschäftigt. Sie hat Problemfelder identifiziert und Lösungsansätze entwickelt, die zum Teil mit dem vorgegebenen Werkstattrahmen kollidieren. Der wurde in den 70er Jahren für den Personenkreis der Menschen mit geistiger Behinderung entwickelt. In der Zusammenfassung der Tagungsergebnisse weist die gpe darauf hin, dass deren Einschränkungen in der Regel stabil sind und ihre Leistungsfähigkeit damit konstant bleibt. Menschen mit psychischen Behinderungen erleben dagegen oft schwankende Phasen in ihrer Leistungsfähigkeit. Häufig treten Rückfälle oder Krisen auf, die zu längeren Ausfallzeiten führen. Dieser Unterschiedlichkeit wird das Werkstattangebot unter den heutigen Bedingungen nicht ausreichend gerecht.

Konkret benennt das Ergebnispapier der Tagung folgende Problemfelder und mögliche Lösungsansätze:

Problemfeld 1: Zugang zur "Teilhabe an Arbeit"

Trotz der zentralen Rolle, die Arbeit für die Genesung von Menschen mit psychischer Erkrankung spielt, finden viele Betroffene keinen Zugang zum Hilfesystem. Die Zugangswege sind langwierig und mit der Einführung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) sind zusätzliche Barrieren entstanden. Oft vergehen Jahre zwischen dem Auftreten einer psychischen Erkrankung und dem Annehmen von Hilfsangeboten. Es bedürfte dringend schneller, kurzfristiger Interventionen, um die Personen zu erreichen.

Ansatz:
Schaffung niederschwelliger Angebote, die den Zugang zum Hilfesystem zu erleichtern und die auch ambulanten, teilstationären und stationären Patienten psychiatrischer Kliniken zur Verfügung stehen.

Problemfeld 2: Kontinuierliche Betreuung auch in Krankheits- und Krisenphasen

Werkstattbeschäftigte, die über einen längeren Zeitraum arbeitsunfähig krank sind, werden nach sechs Wochen beim Kostenträger abgemeldet. In dieser ohnehin belastenden Phase verlieren sie ihre Tagesstruktur, die gewohnte soziale Betreuung und die wichtigen sozialen Kontakte ihrer "Arbeitsstelle", obwohl diese für ihre Genesung förderlich wären.

Ansatz:
Die Betreuung und Begleitung in der Werkstatt wird individuell auf den Gesundheitszustand abgestimmt und die tägliche Beschäftigungszeit flexibel an die jeweilige Situation angepasst. Es gibt keine festgelegte Mindestanwesenheitszeit. Teilnehmer, die sich von ihrer bisherigen Tätigkeit überfordert fühlen, können ein tagesstrukturierendes Angebot aufsuchen. So kann eine Tagesstruktur erhalten bleiben. Falls Teilnehmern ein Besuch dort nicht möglich ist, werden kontinuierlich Hausbesuche oder Besuche in der Klinik durchgeführt. Während der Genesungsphase kann der Teilnehmer seine Arbeitszeit nach dem Prinzip der stufenweisen Wiedereingliederung schrittweise an seinen Gesundheitszustand anpassen. Dabei wird darauf geachtet, eine personelle Kontinuität sicherzustellen.

Problemfeld 3: Kontinuierliche personale Betreuung

Einige Werkstattbeschäftigte werden derzeit in arbeitsbezogenen Fragen vom Sozialdienst der Werkstatt betreut, für den außerbetrieblichen Bereich ist dagegen ein separater psychosozialer Betreuer zuständig ist. Das kann in manchen Fällen sinnvoll sein. Meist wäre es aber hilfreich, wenn der Sozialdienst der Werkstatt – unter Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts – eine ganzheitliche Betreuung übernehmen könnte, die sowohl den Arbeits- als auch den häuslichen Bereich umfasst. Damit könnten auch wertvolle zeitliche Ressourcen gespart werden, da die "doppelte" Abstimmung zwischen verschiedenen Betreuungssystemen sowie mit dem weiteren Netzwerk des Klienten (Ärzte, Therapeuten, Familie etc.) entfällt.

Ansatz:
Klienten haben die Möglichkeit, vom Sozialdienst der Werkstatt ganzheitlich betreut zu werden, auf ihren Wunsch kann der Sozialdienst auch die psychosoziale Betreuung außerhalb der "Teilhabe an Arbeit" übernehmen.

Problemfeld 4: Verbesserung der Integration

Die herkömmlichen Methoden in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) zur Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt folgen dem Prinzip "first train, then place". Dies zeigt sich auch gesetzlich, da der Berufsbildungsbereich dem Arbeitsbereich vorgelagert ist. Studien belegen jedoch, dass das Prinzip "first place, then train" also die Methode des "Supported Employment" oder der "Unterstützten Beschäftigung", deutlich erfolgreicher ist.

Ansatz:
Personalschlüssel ermöglichen, damit die Methode der Unterstützten Beschäftigung systematisch angewandt werden kann und somit bessere und langfristig stabile Vermittlungsergebnisse erzielt werden können.

Problemfeld 5: Aufheben der Grenze zwischen Zuverdienst und Werkstatt

Derzeit bestimmt die wöchentliche Beschäftigungszeit, in welchem Angebot ein Klient aufgenommen wird. Bis zu einer wöchentlichen Arbeitszeit von 15 Stunden stehen den Klienten Zuverdienstprojekte zur Verfügung. Sobald die Klienten ihre Arbeitsfähigkeit steigern und die 15-Stunden-Grenze überschreiten, erfolgt der Wechsel in die Werkstatt, die eine Mindestbeschäftigung von 15 Wochenstunden erfordert. Dieser Wechsel bringt eine Veränderung der Arbeitsaufgaben, des Beschäftigungsorts, der Kollegen und des Betreuungspersonals mit sich.

Ansatz:
Den Betroffenen stehen von Beginn an alle Beschäftigungsbereiche offen, unabhängig von der Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden. Anpassungen der wöchentlichen Arbeitszeit – ob Erhöhungen oder Reduzierungen – sind in allen Abteilungen möglich, ohne dass ein Wechsel der Arbeitsaufgabe, des Arbeitsplatzes oder des sozialen Umfelds erforderlich ist.

Problemfeld 6: Einbeziehung von Experten in eigener Sache

Derzeit werden in den Teilhabeangeboten nur selten Experten in eigener Sache (auch Peer-Berater oder Genesungsbegleiter genannt) einbezogen. Ihr Einsatz basiert auf der Idee, dass Menschen, die ähnliche Herausforderungen erfolgreich gemeistert haben, besonders gut geeignet sind, andere auf ihrem Genesungsweg zu unterstützen. Auch angesichts des bestehenden Fachkräftemangels im Gesundheits- und Sozialwesen kann der Einsatz von Genesungsbegleitern eine wertvolle Ergänzung darstellen.

Ansatz:
Genesungsbegleiter stehen für den Erst¬kontakt mit Klienten zur Verfügung und betreuen auch Betroffene, die momentan nicht arbeitsfähig sind.

Problemfeld 7: Bildungsangebote für alle

In vielen Werkstätten ist die intensive berufliche Bildung auf den Berufsbildungsbereich beschränkt.

Ansatz:
Alle Beschäftigten haben Zugang zur beruflichen Bildung.

 

Soweit der von der gpe identifizierte Änderungsbedarf und die von ihr skizzierten Lösungsansätze, die sie weiter verfolgen will. Den vollständigen Bericht finden Sie hier.

Wir möchten die Berichterstattung über die Ergebnisse des Workshop mit einer Umfrage unter unseren LeserInnen verbinden. Die Umfrage finden Sie hier.

 

Zurück zur Artikelübersicht

Bleiben Sie informiert

Abonnieren Sie jetzt unseren Newsletter und bleiben Sie auf dem neusten Stand

Logo Evangelische Bank eGClaim Evangelische Bank eG

53° NORD wird gefördert durch Evangelische Bank

Die Evangelische Bank unterstützt die Inklusion von Menschen mit Behinderung, weil Diversität eine Bereicherung für unsere Gesellschaft und Ausdruck unserer christlich, nachhaltigen Grundeinstellung ist.

Erfahren Sie mehr