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"Teilzeit-Inklusion"

Was deutsche Werkstätten von Österreich lernen können

Bild "Teilzeit-Inklusion"

 27. November 2023 |  Dieter Basener | Textbeitrag

  Werkstätten, Kostenfreie Artikel, Blick über den Zaun

Dass eine Werkstatt die Bewohnerwäsche eines Seniorenheims wäscht, ist nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich ist es aber, wenn sich anschließend Werkstattbeschäftigte auf den Weg in das Heim machen, um die Wäsche auf die Zimmer der BewohnerInnen zu verteilen. Und das Woche für Woche, als fester Bestandteil ihrer Werkstattarbeit. Genau das geschieht in der ARCUS-Werkstätte in österreichischen Altenfelden, im Oberen Mühlviertel, nahe der Grenze zu Deutschland und Tschechien. Die Auslieferung ist eines von vielen Angeboten einer speziellen Form der Werkstattarbeit, die hier "Integrative Beschäftigung" heißt und Werkstattbeschäftigte in Kontakt mit der Bevölkerung bringt. Sie werden in der Öffentlichkeit sichtbar, stellen ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis und gewinnen erkennbar an Selbstbewusstsein.

Der Wäschedienst hat sich als Glücksfall erwiesen. Mittlerweile sind aus den Kontakten zu den Seniorinnen Freundschaften entstanden. Für Werner Gahleitner, den Geschäftsführer der ARCUS Sozialnetzwerk gGmbH, ist es ein Beispiel für gelebte Inklusion: "Die Bewohnerinnen freuen sich schon die ganze Woche darauf, dass die Werkstattgruppe ihnen am Donnerstag die Wäsche bringt. Die trinken zusammen Kaffee, essen ein Stück Kuchen und reden miteinander. Der Service hat nur Gewinner: Die Heime, die Seniorinnen, die Beschäftigten und letztlich auch uns, die Werkstätten, weil wir für unsere Klienten attraktiver werden." Mittlerweile bietet ARCUS diese Dienstleistung für mehrere Seniorenheime an.

 

Ein bunter Strauß von Arbeitsmöglichkeiten in der Gemeinde

Für die deutschen Werkstattlandschaft sind zeitlich begrenzten Dienstleistungen in der Region die Ausnahme, hier sind sie schon länger die Regel. Werkstattbeschäftigte arbeiten „in Teilzeit“ für Betriebe, Firmen und öffentliche Einrichtungen, für Institutionen und Vereine. Sie holen Reststoffe ab und bringen sie zur Altstoffsammelzentrum. Sie liefern für ein Gasthaus Essen auf Rädern an daheim wohnenden Seniorinnen. Sie sortieren und verpacken Eier in einem Hühnerhof, füllen Regale in einem Lebensmittelmarkt, reinigen Backbleche in einer Bio-Bäckerei, pflegen die Grünflächen einer Gemeinde, backen Kuchen und servieren ihn in einem Café in einem Seniorenheim. Oder sie bieten eine "gesunde Jause" für eine Grundschule, in Österreich heißt sie Volksschule, bereiten die Brote in der Werkstatt vor und verkaufen sie in der großen Pause an die Schülerinnen und Schüler. Die Bedingungen der Tätigkeiten regeln Kooperationsvereinbarungen. Sie umfassen z.B. den Arbeitsschutz, die Arbeitszeiten, die Vergütung und halten fest, dass es sich bei der Tätigkeit nicht um ein Anstellungsverhältnis handelt, etc.

Geschäftsführer Werner Gahleitner ist überzeugt von diesem gemischten Angebot und weitet es aus. "Wir haben vor ca. zehn Jahren schon mit der Integrative Beschäftigung begonnen und heute verbringen unsere Klienten schon ca. 25% ihrer Arbeitszeit außerhalb der Werkstatt, Tendenz weiter steigend. Wir haben eine Mitarbeiterin, die das Angebot koordiniert und auch neue Arbeitsmöglichkeiten sucht." Dabei läuft die Integrative Beschäftigung nicht nach Schema F. Viele Varianten sind möglich. Werner Gahleitner: "Unsere Beschäftigten arbeiten stundenweise oder tageweise draußen, manchmal sogar bei mehreren Auftraggebern. In der Regel sind es Kleingruppen zwischen zwei und sieben Personen. Allerdings selten eine ganze Werkstattgruppe, die Werkstattarbeit muss ja weiterlaufen. Gelegentlich macht sich auch eine Einzelperson auf den Weg. Meistens, aber nicht immer sind die Gruppen begleitet. Für den Fahrtweg nutzen sie unsere Fahrzeuge, nah gelegene Einsatzorte erreichen sie auch ‚per Pedes‘ oder mit dem Rollstuhl."

Ein großes Plus liegt für den Geschäftsführer in der Vielseitigkeit der Anforderungen. In Österreich gibt es keine Maßnahme analog zur deutschen Tagesförderstätten, auch Personen mit hohem Unterstützungsbedarf sind in den Werkstätten beschäftigt. Auch für sie ermöglicht die Integrative Beschäftigung Tätigkeiten außerhalb der Werkstatt und bringt sie mit Menschen zusammen, zu denen sie sonst keinen Kontakt hätten. "Beim Wäscheservice für das Seniorenheim kann ein Rollstuhlfahrer sehr gut ein Wäschepakte transportieren und es Frau Müller auf ihr Zimmer bringen. Seniorenheime sind meist behindertengerecht gebaut und verfügen über eine entsprechende Sanitärausstattung."

Die Unterschiede zwischen deutschen und österreichischen Werkstätten

Dass sich gemeindeintegrierten Tätigkeiten relativ nahtlos in die Werkstattarbeit einbinden, liegt auch an der Struktur der österreichischen Werkstätten. Hier gilt nicht die Mindestgröße von 120 Plätzen. Es gibt ein wohnortnahes Versorgungsnetz von Kleinwerkstätten mit einer Größe zwischen 20 und 80 Plätzen, längere Fahrtwege sind die Ausnahme. Der soziale Bezug zu den Gemeinden ist enger als in Deutschland, österreichische Werkstätten findet man seltener in Gewerbegebieten. Das Arbeitsangebot ist weniger industriell ausgerichtet. Auch hier gibt es Verpackungs- und Montagearbeiten für Auftragsfirmen und eine Maschinenausstattung, aber seltener einen Maschinenpark, wie er in deutschen Werkstätten üblich ist. Der Anteil der Eigenfertigung und auch der Kreativangebote liegt vergleichswiese hoch, die Produkte werden häufig in Werkstattläden vertrieben. Das monatliche Entgelt für die Menschen mit Beeinträchtigung ist niedriger, in der Regel liegt es zwischen 30 und 400 Euro.

ARCUS-Geschäftsführer Werner Gahleitner verhehlt nicht, dass die Integrative Beschäftigung nicht zu den lukrativsten Geschäftsfeldern zählt: "Mit einem klassischen Werkstatt-Industrieauftrag lässt sich in der Regel mehr verdienen. Die 'Gute Jause' in der Volksschule bieten wir zum Beispiel zum Selbstkostenpreis an, sonst ist das für die Schüler nicht attraktiv. Aber die Chance, darüber Kontakte zwischen Werkstattbeschäftigten und Schulkindern zu knüpfen, ist uns das wert." Betriebswirtschaftlich und auch organisatorisch ist die Integrative Beschäftigung ein Balanceakt. Der erhöhte Betreuungsschlüssel geht, das räumt der Geschäftsführer ein, zu Lasten der "traditionellen Werkstattarbeit" und darüber gibt es gelegentlich Unmut seitens des Personals, auch deshalb, weil diese Form der Arbeit gewohnte Abläufe und Muster durchbricht.

Werner Gahleitner hat den Ausbau der Integrativen Beschäftigung zur Firmenstrategie erhoben. Beim Einsatz von Investitionen und Personalressourcen fällt seine Entscheidung im Zweifel nicht unbedingt zugunsten der Produktion aus: "Über Budgets untermauert man die eingeschlagene Strategie", sagt er. "Da hat neues Personal für die Integrative Beschäftigung schon mal Vorrang vor einer neuen Fertigungsmaschine."

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Ein Gewinn für alle

Für die Öffnung der Werkstätten gibt es auch externe Gründe: "Die Angehörigen erwarten von uns, dass wir Schritte in Richtung Integration unternehmen und auch die Kostenträger fordern in den Leistungsverträgen mit den Werkstätten integrative Arbeitsmöglichkeiten ein." Die Integrative Beschäftigung sei nicht auf die ARCUS gGmbH beschränkt, sondern "im Norden von Österreich inzwischen üblich". "Jeder sucht dabei seinen eigenen Weg, es gibt viele innovative Ansätze. Woanders arbeiten Klienten z.B. in der Bücherei oder im Schwimmbad bei der Bademeisteraufsicht."

Das Leitungsteam der ARCUS gGmbH ist davon überzeugt, dass die Öffnung der richtige Weg ist. Mit spürbarer Emotion berichtet Werner Gahleitner von den Auswirkungen der Integrativen Beschäftigung auf die Beteiligten: "Für die Klienten verändert die Tätigkeit in der Gemeinde ihr Selbstverständnis. Wenn sie gefragt werden, wo sie arbeiten, dann ist es vielleicht nicht mehr die Werkstätte, sondern sie 'bringen die Jause in die Schule'. Auch die Kooperationspartner sind überraschend offen für die Integration. Sie spüren eine Verbesserung des Betriebsklimas, die Leistung steht nicht im Mittelpunkt. Zum Teil nehmen unsere Klienten an ihren Betriebsausflügen und Weihnachtsfeiern teil. Und auch die Eltern sind stolz darauf, dass ihre Kinder außerhalb der Werkstatt arbeiten. Das ist ein Maß an Integration, das sie vorher nicht erlebt haben. Denen geht regelrecht das Herz auf."

Allerdings erreicht die Werkstatt nicht alle Beschäftigten mit ihrem integrativen Angebot. "Manchen Klienten ist der Weg in die Gemeinde zu mühsam", berichtet der Geschäftsführer. "Vor allen diejenigen, die schon lange in der Werkstatt arbeiten, mögen die Komfortzone in der Werkstatt. Je früher jemand dieses Angebot wahrnimmt, umso leichter fällt ihm der Schritt nach draußen. Und wir spüren, dass im letzten Jahrzehnt vor der Berentung die Motivation wieder abnimmt. Dann setzt eine allmähliche Ermüdung ein und irgendwann wollen sie nicht mehr. Deshalb ist die Integrative Beschäftigung auch kein Muss, sondern ein Angebot, das man annehmen oder ablehnen kann. Die klassischen Werkstattplätze werden wir als Rückzugsmöglichkeit und Schutzraum auch in Zukunft brauchen."

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Ein "zusätzlicher Pfeil im Köcher"

Ist die bei ARCUS praktizierte Mischung von werkstattinternen und externen Angeboten auch eine Möglichkeit für deutsche Werkstätten? Bei uns ist die stunden- oder tageweise Tätigkeit außerhalb der Einrichtung bisher eher von Tagesstätten bekannt, nach dem Muster von "Auf Achse", dem integrativen Arbeitsangebot von Leben mit Behinderung in Hamburg. Wir kennen eher die in Betriebe ausgelagerten WfbM-Arbeitsgruppen oder Einzelplätze, die nach dem Ganz-oder-Garnicht-Prinzip funktionieren. Kurzzeitaufträge für Kleingruppen sind selten. Sie erfordern einen höheren organisatorischen und personellen Aufwand und bei den Beteiligten eine hohe Motivation. Das Beispiel ARCUS zeigt, dass sich dieser Aufwand lohnt. Integration wird niederschwellig, sie bringt Abwechslung in den Werkstattalltag, die Isolation wird durchbrochen und alle Beteiligten profitieren. Integrative Beschäftigung kann auch in Deutschland ein weiterer Baustein im Angebot der Werkstätten sein, ein "zusätzlicher Pfeil im Köcher", der die Öffnung voranbringt.

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