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Ehemalige Werkstattbeschäftigte unterrichten an der Hochschule

Bild Ehemalige Werkstattbeschäftigte unterrichten an der Hochschule

 21. Februar 2023 |  Dieter Basener | Textbeitrag

  Haltung, Wahlfreiheit und Selbsbestimmung, Berufliche Bildung, Durchlässigkeit und Übergänge, Kostenfreie Artikel

Angehende Sonderpädagogen durchlaufen ihr Studium oft ohne Kontakt zu denjenigen, für die sie künftig tätig sein sollen. Lässt sich das ändern? Ja, sagte die Stiftung Drachensee, ein Träger der Eingliederungshilfe in Kiel, warum sollten nicht Werkstattbeschäftigte in Lehrveranstaltungen über sich und ihr Leben berichten? 2009 setzte die Werkstatt und die Fachhochschule Kiel die Idee in die Tat um. Das Leuchtturmprojekt "Meine Welt" war geboren. Die Werkstattteilnehmer bereiteten sich in der WfbM auf ihren Auftritt vor und stellten sich alle zwei Wochen in der Hochschule den Fragen der Studenten.

Die Reihe "einfach Mensch" des ZDF hat dasPortrait "Von der Werkstatt in die Uni" über Samuel Wunsch in der Mediathek abrufbar.

Ein Qualifizierungsgang entsteht

Die Resonanz war gut, beide Seiten sahen das Projekt als Gewinn. Vier Jahre später wurde aus dem informellen Kontakt ein dauerhaftes und professionelles Projekt. Die Stiftung Drachensee kreierte den Qualifizierungsgang zur Bildungsfachkraft. Der erste Durchlauf fand von 2013 bis 2016 statt und war dual angelegt. Theorieanteile wurden durch Praxiserfahrungen in der Hochschule ergänzt, Ziele, Inhalte und Prüfungsanforderungen in einem Modulhandbuch formuliert. Neben den Informationen stand die Reflektion der eigenen Erfahrungen und der Abgleich mit den Erfahrungen anderer Menschen mit Behinderung. Sechs Werkstattbeschäftigte durchliefen diese Ausbildung in Vollzeitform. Sie waren formal weiterhin in der Werkstatt beschäftigt, aber für die Qualifizierung freigestellt. Das Projekt "Inklusive Bildung" wurde finanziert über der Aktion Mensch und über das Integrationsamt.

Von Beginn an ging es den Projektverantwortlichen sehr gezielt um die Schaffung von Arbeitsplätzen. Dazu diente ein Vernetzungsforum mit Vertretern aus Politik, Hochschule, Verwaltung und Selbstvertretung. Das Ergebnis waren Kooperationsverträge mit den Hochschulen in Schleswig-Holstein, die den Einsatz der künftigen Bildungsfachkräfte garantierten und regelten. Beteiligt waren neben der Fachhochschule die Christian-Albrecht-Universität zu Kiel, die Europa-Universität Flensburg sowie die Fachhochschule für Verwaltung und Dienstleistung in Altenholz, in der Fachkräfte der Polizei, Verwaltung, Rentenversicherung und Steuerverwaltung ausgebildet werden. Damit wurde die Zielgruppe der Bildungsfachkräfte über die Berufe im Sozialwesen hinaus erweitert. Langfristig will das Projekt die Voraussetzungen für die Inklusion und Teilhabe von Menschen mit Behinderung überall dort schaffen, wo Menschen mit Menschen in Kontakt sind.

Eine neue Trägerstruktur

Die Professionalisierung der Tätigkeiten von Bildungsfachkräften und die Initiierung des Ausbildungsgangs benötigten eine eigene Struktur. Dies führte zur Gründung des Instituts für Inklusive Bildung gGmbH, ein Tochterunternehmen der Stiftung Drachensee. Das Projekt erzeugte schnell bundesweite Aufmerksamkeit und es kam zu Folgeinitiativen in anderen Bundesländern. Der Beratungs- und Unterstützungsbedarf stieg, so dass sich die Stiftung Drachensee gemeinsam mit dem Land Schleswig-Holstein zu einem weiteren Schritt entschied: Die Bildungsfachkräfte einschließlich ihrer Koordination und Einsatzplanung wurden von 2022 an in eine Festanstellung an der Uni Kiel übernommen. Formal sind sie eine zentrale Einrichtung der Christian-Albrecht-Universität, finanziert aus Mitteln des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur. Ihre Bildungsangebote stehen allen Hochschulen des Landes offen. Die Kieler Bildungsfachkräfte sind in über 80 Lehrveranstaltungen eingebunden und nehmen mehrere Termine pro Woche wahr.

Zudem arbeiten sie inzwischen auch als partizipative Forscher in universitären Forschungsprojekten mit. Das Projekt ParLink erforschte beispielsweise die Wirkung der Tätigkeit der Bildungsfachkräfte. Beim Projekt DisHist geht es um es um die Erforschung des Themas Behinderung in der DDR. Hier besteht die Aufgabe in der verständlichen Aufarbeitung der Forschungsergebnisse, etwa darum, Texte für die Projektwebsite zu verfassen oder in WfbM Workshops zu den Inhalten des Forschungsprojekts zu veranstalten.

Ausweitung in andere Bundesländer

Diese neu gegründete zentrale Einrichtung der Christian-Albrecht-Universität trägt weiterhin den Namen Institut für inklusive Bildung (IIB). Die GmbH, aus der sie hervorgegangen ist, existiert jedoch weiter und heißt etwas – leicht verwirrend – IIB2 Beratung.Bildung.Arbeit. Sie übernimmt die Aufgabe, Bildungsfachkräfte auch in anderen Bundesländern zu etablieren. Mittlerweile sind entsprechende Qualifizierungsgänge für NRW an der Technischen Hochschule in Köln. Sachsen-Anhalt hat sie an der Hochschule Magdeburg-Stendal eingerichtet, Mecklenburg-Vorpommern an der Hochschule Neubrandenburg und Baden-Württemberg an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Im Heidelberger Annelie-Wellensiek-Zentrum für Inklusive Bildung findet seit dem Herbst 2022 schon ein zweiter Qualifizierungsdurchgang statt. Die Kieler stehen diesen Initiativen mit Ihrem Know-how beim Aufbau der Qualifizierung und beim Etablieren von Arbeitsplätzen zur Seite. Weitere Projekte in anderen Bundesländern sind in Aufbau und auch internationale Kontakte sind bereits vorhanden.

Gründung des Deutschen Inklusionszentrums

Das IIB 2, die Beratungs-gGmbH, hat noch ein weiteres Großprojekt in Arbeit. Nach einjähriger Planungs- und Vorlaufzeit startete zum 1.1.2023 der Aufbau eines Deutschen Inklusionszentrums (DIZ). Dahinter verbirgt sich die Idee, das Prinzip des Ausbildungsgangs zur Bildungsfachkraft auf andere Berufsfelder zu übertragen. Die Tätigkeitsfelder, die die Kieler dabei ins Auge fassen, sind die Kindertagesstätten und der Pflegebereich, der Bereich Kommunikation/Digitalisierung – gemeint ist hier das Sicherstellen von barrierearmer Sprache und Technik schon bei der Entstehung der Websites und Anwendungen, die Beratung von Unternehmen in Bezug auf Inklusion und Teilhabe sowie das Coachen bzw. die Peer-to-Peer-Beratung beim Zugang zum Arbeitsmarkt.

Anders als beim Qualifizierungsgang Bildungsfachkraft will die IIB2 Curricula nicht im Alleingang entwickeln und auch nicht selber Ausbildungsträger werden, sie sollen vielmehr bei etablierten Bildungsträgern und Fachschulen angesiedelt werden. Angestrebt wird eine inklusive Form der Ausbildung an reguläre Ausbildungseinrichtungen. Dazu sucht das DIZ geeignete Partner. Ihre eigene Rolle sieht sie in der Koordination sowie in der Beratung beim Aufbau und bei der Entwicklung. Gestartet wird das Projekt mit der Einrichtung regionaler Fachgruppen, in denen neben Menschen mit Behinderung Bildungseinrichtungen, Unternehmen und Anbieter der Eingliederungshilfe vertreten sind. Ziel ist auch hier die Etablierung von dreijährigen Qualifizierungsgängen sowie die Begleitung des Übergangs auf den Arbeitsmarkt. Finanziert wird das dreijährige Projekt mit einer Million Euro aus Mitteln der Stiftung Aktion Mensch.

Aus der Idee einer Sozialpädagogin vor nunmehr 14 Jahren ist eine Bildungs- und Beschäftigungs-Initiative entstanden, die dem Anliegen der Inklusion einen starken Schub verleiht. Sie ermöglicht die Anstellung von Menschen mit Werkstattstatus in festen Arbeitsverhältnissen mit tariflicher Entlohnung und nutzt ihr Expertentum, wo bisher das Defizit im Fokus stand und ihnen von der Gesellschaft ein Platz als Hilfeempfänger zugewiesen wurde.

Die Reihe "einfach Mensch" des ZDF hat dasPortrait "Von der Werkstatt in die Uni" über Samuel Wunsch in der Mediathek abrufbar.

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