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Visionen zur Weiterentwicklung der beruflichen Teilhabe

Ein erfolgreiches Entwicklungslabor

Bild Visionen zur Weiterentwicklung der beruflichen Teilhabe

 11. Oktober 2022 | Textbeitrag

  Weiterentwicklung der beruflichen Teilhabe, Kostenfreie Artikel, Veranstaltungsrückblick

In der ersten Oktoberwoche wagten wir von 53° NORD uns an eine experimentelle Veranstaltungsform, mit der wir einen Impuls für die Weiterentwicklung der beruflichen Teilhabe aussenden wollten. Gemeinsam mit dem Bundesverband evangelischer Behindertenhilfe, Werkstatträte Deutschland e.V. und dem Mitherausgeber der bei 53° NORD erschienen Anthologie "Weiter entwickeln – aber wie?" und Vorstand der Pfennigparade Dr. Jochen Walter luden wir dazu ein, Ideen für eine konsequent an den Bedürfnissen der Person orientierte Unterstützung zu entwickeln.

Unter den über vierzig Veranstaltungsteilnehmern waren Werkstattbeschäftigte, Fachkräfte, Sozialpädagogen, Leitungskräften, Vertreter von Kostenträgern und Verbänden sowie des Hochschulbereichs. Die teilhabepolitische Sprecherin der Grünen, Cornelia Rüffer, wollte ebenfalls teilnehmen, konnte sich aber wegen einer Erkrankung erst beim Resümee des zweiten Tages zuschalten und zu den Plänen der Bundesregierung Auskunft geben.

Das Besondere an dieser Veranstaltung: Neun parallel arbeitenden Arbeitsgruppen einigten sich gleich zu Beginn auf eine (fiktive) Person, die Anspruch auf Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben hat und beschrieben ausführlich deren Situation, ihre Wünsche, Erwartungen und Bedürfnisse. Im zweiten Schritt traf diese Person auf das Hilfesystem ihrer Heimatregion und jede Gruppe hielt fest, was für die Realisierung ihrer Wünsche und Erwartungen hilfreich und hinderlich war. In einem dritten Schritt entwickelte die Gruppe die Vision einer Unterstützung, die unabhängig von existierenden Strukturen den Ansprüchen der Person gerecht werden könnte. Der Titel der Online-Veranstaltung lautete entsprechend: Berufliche Teilhabe neu denken – Einladung zu einem Entwicklungslabor.

Wer sich für die Teilhabe an diesem gedanklichen Experiment entschied, sollte dies nicht bereuen. Das Konzept erwies sich als niedrigschwellig, die AGs fanden schnell zueinander und kreierten gleich zu Beginn Personen in unterschiedlichen Situationen und mit vielfältigen Wünschen und Bedürfnissen: Menschen mit geistiger Beeinträchtigung ebenso wie Körperbehinderte mit hohem Assistenzbedarf oder Menschen mit psychischer Behinderung, auch drogenbedingt, mit Autismus oder erworbener Hirnschädigung. 17-jähige waren ebenso vertreten wie 35-jährige, Personen mit beruflicher Vorerfahrung bzw. einer Ausbildung im Berufsbildungswerk und Personen, die gerade ihre Schulzeit beendet hatten. Eine der Personen hatte einen Migrationshintergrund, bei einer war das Geschlecht nicht klar definiert. Sie kamen aus unterschiedlichen Regionen, lebten in der Stadt oder auf dem Land.

Die meisten dieser fiktiven Personen starteten ihre berufliche Teilhabe in der WfbM. Einige blieben dort, andere suchten einen Zugang zum Arbeitsmarkt. Wieder andere lehnten die Werkstatt ab, hatten aber Schwierigkeiten, eine passende Unterstützung zu bekommen. Das Werkstattangebot bot einen gut organisierten Einstieg ins Berufsleben mit viel personeller Unterstützung. Bei den Perspektiven in den Arbeitsmarkt, speziell in eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit, waren die Möglichkeiten jedoch begrenzt. Bemängelt wurde die geringe Flexibilität des Werkstattangebots, mangelnde Informationen zum Übergang, die fehlende Erfassung der Wünsche und deren systematische Umsetzung. Auch die ausgelagerten Arbeitsplätze und Arbeitsgruppen der WfbM, für viele ein geeignetes Angebot, seien zumTeil unterfinanziert, Vertretungen nicht ausreichend geregelt, es gäbe Probleme beim Fahrweg.

Kritik richtete sich auch an die Seite der Leistungsträger: Auch hier fehlende Beratung über die beruflichen Möglichkeiten, unterschiedliche und nicht vernetzte Zuständigkeiten, keine Gesamtsystematik und keine Kontinuität in der Unterstützung. Qualifizierung und berufliche Bildung sei auf die 27 Monate Eingangsverfahren und BBB begrenzt, statt sie immer dann zu ermöglichen, wenn sie gebraucht würden.

Die Visionen für eine personenzentrierte, ganzheitliche und nachhaltige Unterstützung waren in den AGs erwartungsgemäß nicht einheitlich. Auffällig war jedoch, dass in allen Vorschlägen die Werkstätten, anders als in der öffentlich geführten Diskussion, weiterhin ihren Platz hatten, wenn auch zum Teil in veränderter Form. Einig waren sich die meisten Gruppen darin, dass es einer kontinuierlichen personellen Unterstützung bedürfe, ausgehend von einer neutralen, unabhängigen und kompetenten Beratung zur beruflichen Teilhabe, bei der auch der Peer-Gedanke berücksichtigt werden solle. Der Zugang zu den Leistungen der Eingliederungshilfe müsse bedarfsorientiert und ohne medizinische Diagnose möglich sein. Mache AGs wollten die Beratungsleistung vor dem Übergang von der Schule in den Beruf ansiedeln, um frühzeitig Praktika und Betriebskontakte zu ermöglichen, andere setzten sie als Lebens- und Entwicklungsberatung sogar schon im frühen Kindesalter an. Daraus entwickeln sollte sich eine kontinuierliche Assistenz, wobei die Person bei der Auswahl der Unterstützer selbstbestimmt entscheiden solle.

Eine Gruppe sah die Reha-Berater der Leistungsträger für den Beratungs- und Hilfeplanungsprozess in der Pflicht. Sie sollten mit einer deutlich verbesserten Personalausstattung und nah an der Person individuelle Beratung, Kompetenzanalysen, Praktika und Qualifizierungen sicherstellen. Im Sinne der Kontinuität solle immer nur ein Leistungsträger aktiv sein und andere Träger ggf. die Kosten refinanzieren. Manche Arbeitsgruppen wollten neben der Finanzierung auch die Unterstützung bündeln - im Sinne eines durchgängigen Case-Managements. Die Unterstützer sollten sowohl für die berufliche Teilhabe wie für den Wohn- und Freizeitbereich zuständig sein. Mehrere Arbeitsgruppen setzten auf das Instrument der Persönlichen Zukunftsplanung und sahen in der PZP den besten Weg, eine selbstbestimmte Lebens- und Berufsplanung zu realisieren. In diesem Zusammenhang solle auch ein Unterstützerkreis für die Person Aufgaben übernehmen.

Im Betrieb sollten Anleitungs- und Assistenzaufgaben längerfristig an die Kollegen übergehen (die dafür auch honoriert werden könnten), die Arbeitsassistenz sollte jedoch auch nach einer Festanstellung weiter verfügbar bleiben und Teilnehmer wie Betriebe gleichermaßen unterstützen. Es müsse ein Anreizsystem für Betriebe geben, werkstattberechtigte Personen einzustellen. Ein besonderes Augenmerk müsse auf der Gewährleistung der Beförderung bzw. auf dem ÖPNV liegen. Es sei die Aufgabe des Leistungsträgers, die Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes sicherzustellen.

Bezüglich der Werkstatt wurde die Forderung erhoben, die Werkstättenverordnung grundlegend zu reformieren. Es müssten zudem Mindestlohn bzw. auskömmlicher Lohn gezahlt werden. Die Werkstatt, so formulierte es eine Arbeitsgruppe, solle sich in Struktur und Entgelt dem Arbeitsmarkt annähern, um die Grenzen zum Arbeitsmarkt abzubauen. Das Arbeitsangebot der Werkstatt solle zudem modernisiert werden. Auch Mischformen zwischen WfbM-Tätigkeit und Tätigkeit im Arbeitsmarkt müssten möglich sein.

Zusammengefasst lauteten die zentralen Vorschläge:

  • Frühzeitige, kompetente und neutrale Beratung zu den unterschiedlichen Möglichkeiten beruflicher Teilhabe
  • Zusammenlegen der zersplitterten Zuständigkeiten und finanzielle Leistungen zu „Leistungen aus einer Hand“
  • durchgängiges, dauerhaft angelegtes Case-Management, das Jobcoaching und Unterstützung im Wohn- und Freizeitbereich umfasst und auch von Trägern außerhalb der Werkstatt angeboten wird („unabhängiger und neutraler Jobcoach“)
  • Orientierung an den Bedürfnissen und Wünschen der Person, Personenzentrierung und Selbstbestimmung als durchgängiges Prinzip, unterstützt von Methoden, die diese Selbstbestimmung ermöglichen
  • Weiterentwicklung der Werkstatt zu einem arbeitsmarktnahen Betrieb mit auskömmlicher Entlohnung und entsprechenden Strukturen.

Die abschließende Diskussion mit der Grünen-Abgeordneten und teilhabepolitischen Sprecherin Cornelia Rüffer ergab, dass die Bundesregierung zwar eine Reihe von Änderungen und Verbesserungen plant und durch eine Expertenkommission prüfen lässt, dass eine grundsätzliche strukturelle Reform im Sinne der hier entwickelten Visionen aber noch nicht angestoßen ist. Hierzu könnte der Vorschlag zur Einsetzung einer Enquetekommission dienen, der wegen der hohen Kosten und konkurrierender Vorhaben noch nicht realisiert werden konnte. Für die sich lebhaft entwickelnde Diskussion der Teilnehmer mit Frau Rüffer blieb wenig Zeit. Deshalb soll ein Folgetermin angesetzt werden, zu dem auch die teilhabepolitischen Sprecher anderer Fraktionen eingeladen werden. Die Veranstalter werden die Ergebnisse der Tagung zudem aufbereiten und in die Diskussion der Fachöffentlichkeit einspeisen.

FAZIT

Fazit der Veranstaltung: Experiment geglückt. In zweimal vier Stunden entwickelten die TeilnehmerInnen überraschend viele konzeptionelle Ideen und Anregungen zur Weiterentwicklung der beruflichen Teilhabe, die die Diskussion bereichern werden. Und die sonst üblichen Polarisierungen innerhalb einer Diskussion entfielen durch eine konsequent auf die Person konzentrierte Arbeitsweise völlig.

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