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Initiative „Gute Arbeit“

Für eine Erweiterung des Werkstattangebots an Arbeitsmöglichkeiten für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf und starken motorischen Einschränkungen

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 17. Januar 2023 |  Dieter Basener | Textbeitrag

  Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf, Kostenfreie Artikel, Gute Praxis - die Reportage

Ina Weber ist 29 Jahre alt und arbeitet seit 11 Jahren in einer WfbM, überwiegend in einer Verpackungsgruppe. Sie braucht bei ihrer Arbeit viel Unterstützung, ihre Konzentrationsfähigkeit ist eingeschränkt. Werkstattintern gilt sie aufgrund ihrer geringen Produktivität als Grenzfall zur Tagesförderstätte. Da sie aber sozial gut integriert ist, haben die Gruppenleiterin und der Soziale Dienst sie im Werkstattstatus belassen. Für sie ist die Zugehörigkeit zu ihrer Arbeitsgruppe wichtiger als die Arbeitsergebnisse.

Ulrich Niemann (38) sitzt im Rollstuhl und ist aufgrund einer Tetraspastik motorisch stark gehandicapt. Auch er arbeitet seit Jahren in einer Werkstatt. Lesen und Schreiben hat er nicht erlernt, kann sich aber gut artikulieren und verfolgt das Zeitgeschehen und die politischen Ereignisse intensiv über Radio und Fernsehen. Die Werkstatt tut sich schwer, ihm einen passenden Arbeitsplatz anzubieten, weil die Produktionsaufgaben fast ausschließlich motorische Fertigkeiten erfordern. Ein Wechsel in die Tagesförderstätte kommt für ihn nicht in Frage. Er würde dies als Ausgrenzung und Statusverlust erleben und befürchtet, dort keine adäquaten Gesprächspartner zu finden.

Beispiele wie diese haben uns, die Verfasser dieses Beitrags, im Rahmen des ersten Innovationskongresses von 53° NORD im Juni 2022 veranlasst, über das Thema Arbeitsangebote in Werkstätten nachzudenken. Zum Ende der Veranstaltung haben wir uns mit unserem Thema zu einer von sieben Projektgruppen zusammengeschlossen und uns zum Ziel gesetzt, das Arbeitsangebot von Werkstatt kritisch zu beleuchten und Veränderungen bzw. Erweiterungen anzustoßen.

Unsere Analyse ergab, dass das Arbeitsangebot den besonderen Bedürfnissen des oben beispielhaft beschriebenen Personenkreises tatsächlich oft nicht entspricht. Die Werkstattklientel hat sich in den letzten Jahren verändert. Vermehrt werden Personen aufgenommen, die aufgrund ihrer Leistungseinschränkungen oder ihres Verhaltens einen höheren Unterstützungsbedarf haben. Bei den Tätigkeiten dominieren aber weiter industrielle Zulieferungen aus dem Verpackungs-, Konfektionierungs- und Montagebereich, die vor allem motorischen bzw. feinmotorischen Fertigkeiten erfordern.

Wir stellten uns die Frage, welche Kriterien Arbeit insbesondere für diesen Personenkreis erfüllen sollte. Was ist „gute Arbeit“ für Menschen mit hohem Unterstützungs- und Pflegebedarf bzw. starken motorischen Einschränkungen? Unsere Antwort: Arbeit muss so gestaltet sein, dass die Person sie für sich und für andere als sinnvoll betrachtet und sich selbst als aktiv und wirksam erlebt. Sie muss leistbar sein und die Möglichkeit bieten, die eigene Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Und sie sollte die Person in Kontakt und Austausch mit ihrer Umwelt bringen und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen.

Die Akquirierung von Arbeitsaufträgen in der Werkstatt wird in der Regel von der Marktsituation und von wirtschaftlichen Erfordernissen bestimmt. Wir möchten erreichen, dass sich das Arbeitsangebot für den eingangs benannten Personenkreis stärker an den genannten Kriterien ausrichtet. Beispiele hierfür finden sich in jüngster Zeit in Tagesförderstätten, die sich um ein Arbeitsangebot für Menschen mit erheblichem Betreuungsbedarf bemühen.

Als richtungsweisend gilt dabei das Konzept „Auf Achse“ des Tafö-Trägers Leben mit Behinderung in Hamburg, das Arbeit vor allem in Form von sozialraumorientierten Dienstleistungen ermöglicht. Eine Tafö-Gruppe bereitet etwa regelmäßig die Beköstigung in der wöchentlichen Leitungssitzung der Hamburger Sozialbehörde vor. Ein ähnliches Arbeitsangebot gelingt einer Tagesförderstätte im Kieler Sozialministerium. In der von der Stiftung Drachensee geführten Kantine wird die Tischdekoration übernommen und im ganzen Haus werden die Blumen gepflegt.

Andere Beispiele: Gruppen übernehmen Aufgaben im Zoo, in einem Fußballverein, in einem Theater, für Blumenläden, Arztpraxen oder Imbisse. Immer geht dabei um überschaubare, leistbare, sinnvolle und abschließbare Aufgaben, die einen inklusiven Aspekt haben, d.h. zu Kontakten mit der Nachbarschaft führen und mit Kommunikation verbunden sind. Ebenfalls im Tafö-Bereich angesiedelt ist der „Saftladen“ der Lebenshilfe Worms, eine rollende Smoothie-Theke, die bei Feiern, Stadtteilfesten, aber auch in einem Ökohof zum Einsatz kommt. An der Vorbereitung der Getränke einschließlich des Einkaufs sind viele Beschäftigte beteiligt, die nicht an der Theke arbeiten können.

Dass Arbeitsangebote wie diese überwiegend in Tagesförderstätten entstehen, ist auch dadurch bedingt, dass sie keine Werkstattentgelte erwirtschaften müssen. Da Erlöse bei dieser Form von Arbeit nur begrenzt zu erzielen sind, müssten für Werkstätten möglicherweise andere strukturelle Lösungen gefunden werden. Grundsätzlich sind wir der Meinung, dass zur Arbeit auch eine Entlohnung oder Honorierung gehört, die aber nicht unbedingt finanzieller Art sein muss. Werkstätten haben andererseits bessere Möglichkeiten, Tätigkeiten dieser Art in umfangreichere Dienstleistungen für Betriebe, Organisationen oder Vereine einzubinden, beispielsweise über feste Servicegruppen, wie sie heute schon in Kirchengemeinden, Altenheimen oder in der Verwaltung von Wohnungsbaugenossenschaften tätig sind. Auch der Betrieb eines Sozialkaufhauses ermöglicht viele Tätigkeiten, die auch von diesem Personenkreis ausgeführt werden können. Dabei ist auch ein Mix aus Arbeitszeit in der WfbM und Arbeitszeit im Sozialraum möglich.

Wenn man neben der Kommunikation und gesellschaftlichen Einbindung auch die Selbstverwirklichung und die Kompetenzerweiterung der Person zu einem Kriterium für „Gute Arbeit“ macht, dann zählen zu den geeigneten Arbeitsangeboten auch die Kunstateliers. Für die motorisch eingeschränkten Personen sind Aufgaben gefragt, die technische Lösungen beinhalten. Außer den Arbeitsinhalten können auch die Arbeitszeit, die Arbeitsform und die Arbeitsorganisation auf den Prüfstand gestellt und flexibler gestaltet werden.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht uns mit unserer Initiative nicht um ein generelles Umsteuern der Werkstattarbeit, nicht um ein Entweder - Oder, sondern um die Erweiterung des WfbM-Angebots in Richtung personenzentrierter Lösungen, Teilzeit-Angebote und Tagesstruktur-Elemente. Es geht um Möglichkeiten der Teilhabe am Arbeitsleben, die Menschen wie Ina Weber und Ulrich Niemann zu Gute kommen und das bestehende Werkstattangebot sinnvoll ergänzen können.

Unsere Bitte an die Leser dieses Beitrags:

Wir möchten unsere Initiative mit einer Sammlung guter Praxisbeispiele und mit der Initiierung eines Gedanken- und Erfahrungsaustauschs zum Thema „Gute Arbeit“ weiterführen. Wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, in Ihrer eigenen Einrichtung entsprechende Beispiele gelungener Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf bzw. für Menschen mit starken motorischen Einschränkungen realisiert haben oder sie von anderswo kennen, berichten Sie uns bitte darüber. Wir möchten eine Liste von Praxisbeispiele erstellen und sie veröffentlichen. Die Mailadresse lautet info(ät)53grad-nord.com , das Stichwort „Gute Arbeit“.

Es sind nicht nur große und perfekte Lösungen gefragt, es können auch gerne kleinere Beispiele bzw. Einzellösungen sein. Wir freuen uns auch über Ihre grundsätzlichen Gedanken und Anregungen zu diesem Thema und möchten Sie in diesem Newsletter weiterhin über diesen Austausch informieren. Im Herbst wollen wir zudem mit 53 NORD eine Fachtagung zum Thema „Gute Arbeit“ organisieren.

Die Initiative „Gute Arbeit“

Petra Frei, Stiftung Drachensee, Kiel
Catarina Wörner, Barmherzige Brüder, Gremsdorf
Jonas Waldner, Rauhes Haus, Hamburg
Dieter Basener, 53° NORD Agentur und Verlag

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