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Was wir vom Fachdienst Spagat in Vorarlberg lernen können

Bild Was wir vom Fachdienst Spagat in Vorarlberg lernen können

 11. Mai 2022 |  Dieter Basener | Textbeitrag

  Weiterentwicklung der beruflichen Teilhabe, Kostenfreie Artikel, Veranstaltungsrückblick

Am Anfang stand eine Elterninitiative mit sieben Mitgliedern. Im österreichischen Bundesland Vorarlberg taten sie sich zusammen, um für ihre Kinder einen integrativen Weg ins Arbeitsleben zu schaffen. Drei Jahre später begann der Fachdienst Spagat seine Vermittlungstätigkeit, unterstützt mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds. Heute gilt er als der einer der erfolgreichsten Vermittlungsdienste in Europa: Mehr als die Hälfte aller werkstattberechtigten Schulabgänger schlägt den „Spagat-Weg“ ein und findet damit den Zugang zu einer tarifliche entlohnten, sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Anfang Mai berichteten die Spagat-Mitarbeiter Christinane Harrer und Lucas Riedmann in einer 53° NORD-Veranstaltung über die Faktoren, die diesen Erfolg ermöglichen. Eine Zusammenfassung in Stichworten.

Trägerschaft

Der Elternverein mit dem Namen Integration Vorarlberg suchte für das Projekt die Kooperation mit einer alteingesessenen, schlagkräftigen Trägerorganisation, dem Institut für Sozialdienste (ifs), die in Vorarlberg in vielen Feldern der ambulanten  und teilstationären Sozialarbeit tätig ist und über Vorerfahrung mit der beruflichen Integration von „Menschen mit Vermittlungshemmnissen“ verfügte. Das ifs brachte seine Organisationskompetenz und seine guten Kontakte zu den Landesbehörden ein.

Länderautonomie

In Österreich ist die Ausbildung und Vermittlung von Menschen, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, Bundesangelegenheit. Die Eingliederungshilfe und damit auch die Unterstützung bei der beruflichen Teilhabe von Menschen, die als „nicht vermittlungsfähig“ gelten, ist dagegen Ländersache. Damit war das mit 400.000 Einwohnern kleinste österreichische Bundesland in der Lage, eigene Wege zur beruflichen Integration zu beschreiten. Die Landesregierung entschied sich bei der Etablierung von Spagat, die betriebliche Integration mit den gleichen finanziellen Mitteln auszustatten wie die schon bestehenden Werkstätten.

Zugang zu Spagat

Spagat suchte zu Anfang sehr aktiv den Kontakt zu den Förderschulen, zu Schülern, Eltern und Lehrern und gewann so viele Schulabgänger für das neue integrative Angebot. Das führte zu einem Wettbewerb mit den Werkstätten, die ihrerseits sehr bald ebenfalls integrative Angebote entwickelten. Die Landesregierung machte die Vorgabe, dass für jeden Schulabgänger zunächst die Möglichkeit zu einer betrieblichen Integration ausgelotet werden muss, bevor sie eine Kostenzusage für einen Werkstattplatz erteilt. Schüler und Eltern haben die Wahl, ob sie eines der integrativen Angebote der etablierten Träger Lebenshilfe und Caritas wählen oder sich für Spagat entscheiden.

Zielgruppe

Spagat begleitet Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und hohem Unterstützungsbedarf, die als nicht ausbildungsfähig bzw. nicht arbeitsfähig gelten. Es gelten also die gleichen Kriterien wie für eine Werkstattaufnahme. Ein Großteil der Interessenten sind Schulabgänger, aber auch WfbM-Wechsler werden begleitet.

Start schon in der Schule

Der Einstieg ins Berufsleben beginnt in der Abschlussstufe der Schule. Hat sich ein Schüler für Spagat entschieden, nimmt ein Integrationsberater Kontakt auf, hilft bei der Beantragung der Unterstützung und bietet eine Kurzfassung der Persönlichen Zukunftsplanung an.

Unterstützungskreis

Der Unterstützungskreis ist ein zentrales Element in der Spagat-Begleitung. Er setzt sich in der Regel zusammen aus der unterstützten Person sowie Eltern, Geschwistern und Angehörigen, Freunden, Nachbarn, Lehrern und – zu einem späteren Zeitpunkt – Arbeitgebern bzw. Mentoren. In dieser frühen Phase dient er dazu, Ideen für mögliche Arbeitsfelder zu sammeln. Die Sitzung des Unterstützungskreises findet meist am Nachmittag oder frühen Abend statt und dauert zwischen zwei und drei Stunden. Die Teilnehmer sagen, wie sie die Person erleben, was sie aus ihrer Sicht gerne macht, wo ihre Stärken und Fähigkeiten liegen.

So entsteht ein gemeinsam erstelltes Fähigkeitsprofil, dazu ein Anforderungskatalog an einen Arbeitsplatz sowie eine Ideenliste für mögliche Praktikumsstellen. Ein wichtiger Punkt: Die Klienten des Unterstützungskreises stellen über ihre persönlichen Beziehungen die Erstkontakte zu Betrieben her, die als potentielle Arbeitgeber in Frage kommen. Dabei ist es sehr wichtig, dass anfänglich immer nur von einem unverbindlichen Schnupperpraktikum ausgegangen wird. Im Verlauf der beruflichen Eingliederung kann die Runde noch häufiger zusammenkommen, um auftretende Probleme zu lösen oder einen neuen Anlauf für eine Vermittlung zu starten.

Schnupperpraktika

Auf der Grundlage der Erstkontakte aus dem Unterstützungskreis organisieren die Integrationsberater Schnupperpraktika. Sie sind bewusst niedrigschwellig gehalten, haben eine Dauer von zwei Vormittagen und dienen dazu, einen ersten Eindruck vom Betrieb zu erhalten, mögliche Tätigkeit auszuloten und sich kennenzulernen. Die Integrationsbegleiter betreuen die Praktika in einer 1:1-Begleitung. Es kann eine Vielzahl solcher Schnupperpraktika vereinbart werden, acht bis zehn oder sogar mehr sind keine Seltenheit.

Ergibt die Auswertung dieser Praktika mögliche Arbeitsfelder bzw. Betriebe, werden längere Praktika vereinbart, die in der Regel zwischen einer und vier Wochen dauern. Nicht immer führt dieses Verfahren zum Ziel, manchmal ist auch eine gezielte Suche nach möglichen Arbeitgebern über die mühsamere „Kaltakquise“ erforderlich.

Erst platzieren, dann qualifizieren

Spagat hält sich an den Grundsatz der Unterstützten Beschäftigung, die Beschäftigten erst in einem Betrieb zu integrieren und sie dort in der „Echtsituation“ anzuleiten. Vorabqualifizierungen mit der Absicht, die Vermittlungsfähigkeit zu verbessern, und die Klienten danach zu vermitteln, gehören nicht zum Konzept.

Der integrative Arbeitsplatz, auch in geteilter Form

Manchmal geht die Arbeitsplatzsuche schnell, manchmal kann sie sich über ein Jahr hinziehen. Am Ende steht in der Regel ein integrativer Arbeitsplatz, immer als sozialversicherungspflichtige Beschäftigung mit tariflicher Entlohnung. Die Besonderheit beim Spagat-Konzept: Es kann sich auch um geteilte Arbeitsplätze handeln, wo die Klienten in zwei oder sogar mehr Firmen tätig sind. Die geteilten Arbeitsplätze sind aus der Not entstanden, weil sich in einem Betrieb oft nicht genügend Aufgaben für eine ganze Arbeitsstelle fanden. Das Konzept hat sich aber bewährt und wird von Betrieben und von den Klienten geschätzt. Es kommt in etwa einem Drittel der Beschäftigungen zum Einsatz, insbesondere bei Personen mit hohem Unterstützungsbedarf.

Arbeitszeiten

Bei den integrativen Arbeitsplätzen handelt es sich in der Regel um Teilzeitstellen mit einer Wochenarbeitszeit zwischen 15 und 25 Stunden. Diese Arbeitszeit entspricht den Wünschen der Klienten, in seltenen Fällen wird sie unter- oder überschritten.

Mentoren

Im Spagat-Konzept ist die Rolle der Mentoren vorgesehen. Dies sind Mitarbeiter des Betriebes, die als Bezugsperson fungieren und eine Anleiterfunktion übernehmen. Anders als in Deutschland wird diese Mentorentätigkeit dem Betrieb honoriert (s. Finanzierung). Spagat organisiert Mentorentreffen zum Austausch und zur Schulung, die aber nicht verbindlich sind.

Inklusionsberater

Die Inklusionsrater sind für die anfängliche Anleitung im Betrieb zuständig, fungieren als Ansprechpartner und Berater der Betriebskollegen, insbesondere der Mentoren und sind auch nach gelungener Integration noch für den Betrieb da. Pro Klient stehen im Durchschnitt 150 Betreuungsstunden pro Jahr zur Verfügung, nur in Ausnahmefällen wird diese Betreuungszeit erhöht. Läuft die betriebliche Eingliederung über längere Zeit problemlos, kann die Begleitung nach Rückspräche mit allen Beteiligten enden, bei Bedarf aber wieder aufgenommen werden.

Finanzierung

Die Finanzierung der Spagatleistung hat drei Säulen: Die Übernahme der Personalkosten der Inklusionsberater, einen Lohnkostenzuschuss und eine Mentorenpauschale. Der Lohnkostenzuschuss kann in Einzelfällen bis zu 90 % der Lohnsumme betragen. Er wird entsprechend der erbrachten Arbeitsleistung vom Integrationsberater und vom Betrieb eingeschätzt und von einem Gutachter überprüft. Bei einer Veränderung der Arbeitsleistung kann er angepasst werden.

Auch die Mentorenpauschale an den Betrieb, die den betreuerischen Aufwand abdeckt, richtet sich nach Aufwand.  In der Regel decken Lohnkosten- und Mentorenzuschuss zwischen 70 und 90 Prozent der Lohnsumme ab. Die Kosten für die Finanzierung der beruflichen Eingliederung über Spagat, einschließlich des Zuschusses für eine tarifliche Entlohnung, liegen im Durchschnitt niedriger als die Kostensätze der Werkstatt.

Begleitende Angebote

Zum Angebot von ifs-Spagat gehören auch Freizeitaktivitäten und Weiterbildungskurse, die gemeinsame Aktivitäten ermöglichen, zusätzliche Tagesstruktur bereitstellen und – bei den üblichen Teilzeitarbeitsplätzen - einen evt. Betreuungsbedarf abdecken helfen.

Zahl der Mitarbeiter und Betreuungsplätze

Aktuell hat Spagat ca. 26 Mitarbeiter, die in über 350 Unternehmen integrative Arbeitsplätze betreuen.

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Fazit

Der Fachdienst ifs-Spagat und das Land Vorarlberg haben mit einer Reihe von innovativen Lösungen die Integration von Menschen mit Unterstützungsbedarf bei der Arbeitsaufnahme bereichert. Neben den Lohnkostenzuschüssen sind die Mentorenzuschüsse ein Instrument, das die Bereitschaft der Betriebe zu Einstellung deutlich verbessert. Auch die Vorgabe des Landes, zunächst einen integrativen Arbeitsplatz anzustreben, bevor ein Kostenanerkenntnis für einen Werkstattplatz erteilt wird, erscheint richtungsweisend.

Das Akzeptieren von Teilzeitarbeit ist ebenfalls ein großer Fortschritt. Das methodische Vorgehen von ifs-Spagat mit dem Beginn der Unterstützung schon in der Schule, dem Unterstützungskreis und der Vielzahl von Schnupperpraktika ist ebenfalls eine Bereicherung für die Integrationspraxis andere Dienste. Schließlich spricht der Erfolg für sich. Die große Zahl der Vermittlungen in tariflich entlohnte und sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen erscheint andernorts für diesen Personenkreis kaum vorstellbar.

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