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Wie die Unterstützte Beschäftigung nach Deutschland kam

Ein Gespräch zwischen Katrin Euler und Dieter Basener von 53° NORD

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 20. Dezember 2022

  Weiterentwicklung der beruflichen Teilhabe, Kostenfreie Artikel, Im Gespräch mit...

Supported Employment – auf Deutsch: Unterstützte Beschäftigung – ist ein aus den USA kommendes Konzept, das im Sinne von Empowerment darauf zielt, Menschen mit Behinderung in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu integrieren. In den Vereinigten Staaten gibt es diese Art der Unterstützung seit den 80er Jahren. Wir sprachen mit Dieter Basener, dem Gründer von 53° NORD darüber, wie und vor welchen Hintergründen die Unterstützte Beschäftigung nach Deutschland kam.

Wie alles begann

Katrin Euler: Dieter, 2008 hast Du unsere Agentur und unseren Verlag 53° NORD gegründet. Zwanzig Jahre zuvor hast Du schon einmal einen wichtigen Impuls für das Angebot beruflicher Teilhabe gegeben. Als erstes Supported-Employment-Projekt in Deutschland hast Du das Konzept der Hamburger Arbeitsassistenz geschrieben und warst maßgeblich an deren Gründung beteiligt. Wie kam es dazu?

Dieter Basener: Ich war seit 1981 als Werkstattpsychologe tätig, zunächst in Ostfriesland in Aurich und Norden und sechs Jahren später in den neu gegründeten Elbe-Werkstätten in Hamburg. Schon in Ostfriesland hatte ich mich mit Alternativen zur Werkstatt beschäftigt. Damals hatte ich vor allem die gerade entstehenden Selbsthilfefirmen im Blick, die Vorläufer der heutigen Inklusionsbetriebe.

In Hamburg stand ich von Beginn an in Kontakt zum Verein Eltern für Integration, der dort die schulische Integration erkämpft hatte. Ingrid Körner hatte in dem Verein gerade den Arbeitskreis Beruf gegründet. Er sollte Ideen erarbeiten, wie Integration nach dem Ende der Schulzeit weitergehen könnte. Ingrid bat mich, in dieser Gruppe mitzuarbeiten. Das war nicht selbstverständlich, als Werkstattmitarbeiter stand ich für die Eltern "auf der anderen Seite".

Ideen-Import aus den USA

Habt Ihr da schon an einen Fachdienst wie die Hamburger Arbeitsassistenz gedacht?

Nein, soweit waren wir noch nicht. Im Arbeitskreis gab es zwei Berufsschullehrer und unser Thema war zunächst ein integrativer Berufsschulunterricht. Ich brachte meine Idee zur Gründung einer Integrationsfirma ein. Die stieß allerdings auf wenig Gegenliebe, weil es ja um "echte Integration" ins Arbeitsleben gehen sollte. Damit lag die Idee eines Vermittlungsdienstes nahe. Was fehlte, war ein schlüssiges Vermittlungskonzept. Dann hat mich eine Veranstaltung mit dem Selbsthilfeaktivisten Horst Frehe aus Bremen auf die richtige Spur gebracht. Der saß nach einem Motorradunfall im Rollstuhl und war ein Jahr lang in Amerika gewesen, um die Independent-Living-Bewegung kennenzulernen. Nebenbei erwähnte er in seinem Vortrag, es gäbe in den USA eine Methode, Menschen mit geistiger Behinderung in Betriebe zu vermitteln und sicherzustellen, dass sie dort langfristig tätig sein könnten. Das sei so erfolgreich, dass es eine Alternative zu Werkstätten wurde. Das Konzept trug den Namen Supported Employment.

Das war das, was Du suchtest…

Ja genau. Ich habe mir Informationen über die Arbeitsweise von Supported Employment besorgt: Place and train statt train and place, also mit der Vermittlung zu starten, den Arbeitsplatz auf die Person zuzuschneiden und sie unter den Echtbedingungen des Betriebs anzuleiten. In Europa war das Konzept 1988 noch nicht angekommen, aber in Amerika war es seit 10-15 Jahren in Erprobung. Ich habe unteranderem einen Amerika-Urlaub genutzt, um mir das Vorgehen vor Ort anzuschauen und das Know-how zu importieren, war in Boston und in Richmond.

Supported Employment war damals in den USA Forschungsgegenstand vieler Hochschulen. Es entstanden Materialien für die Vermittlung und Unterstützung nicht nur für Menschen mit geistiger Behinderung, sondern für ganz unterschiedliche Handicaps. Es gab sogar eine regelmäßige Sendung auf einem Kabelkanal zu diesem Thema, die u.a. Fragen der Zuschauer beantwortete. Ich hatte wirklich Feuer gefangen und trug meine Begeisterung in unseren Arbeitskreis Beruf.

Man kann also sagen: Du hast das Supported Employment nach Deutschland importiert?

Die Idee eines Vermittlungsdienstes gab es zu der Zeit auch anderswo, zum Beispiel in Dieburg. Aber ich habe 88/89 das erste Konzept für einen Fachdienst geschrieben, das sich explizit auf die Supported-Employment-Idee bezog. Die war in Deutschland noch völlig unbekannt. Bis zur Realisierung war es aber noch ein langer Weg. Es dauerte vier Jahre, bis die Arbeitsassistenz tatsächlich an den Start ging.

Anfang der 90er Jahre hat Christie Lynch dann in Dublin sein Supported Employment-Projekt gestartet und ist uns in Hamburg damit zuvorgekommen. Er war in den USA als JobCoach tätig gewesen. Später wurde er der Vorsitzender der EUSE, der European Union of Supported Employment. Den habe ich dann auch im St. Michael´s House besucht, um zu sehen, wie dieses Projekt arbeitete.

Gründung mit Hindernissen

Wie ging es weiter mit Eurem Dienst?

Zunächst haben wir mit der Sozialbehörde Kontakt aufgenommen, ob sie sich ein Modellprojekt vorstellen könnte, das einen neuen Ansatz erprobt. Wir hatten den Begriff eingedeutscht und redeten von Unterstützter Beschäftigung. Die Antwort lautete "Ja", weil die Behörde selber nach Alternativen zu den Werkstätten suchte. Jetzt zahlte es sich aus, dass mit mir ein Werkstattvertreter zu dem Arbeitskreis gehörte.

Wieso?

Die Eltern hatten vor allem ihre Kinder und deren Weg in die Integration im Blick. Ich wollte den Dienst für die Vermittlung aus der Werkstatt öffnen. Da ging es nicht nur um 30 Integrationsschüler, sondern um hunderte von Werkstattbeschäftigten, denen eine Tür geöffnet werden sollte. Das hat die Behörde und auch den Leiter des Integrationsamts überzeugt, damals hieß es noch "Hauptfürsorgestelle". Mein Antrag bezog sich auf ein Budget von einer Million DM für eine dreijährige Erprobung.

Wenn schon alles klar war, warum hat es dann noch so lange gedauert?

Die Leitung der Hauptfürsorgestelle wechselte. Der neue Leiter bezweifelte, dass Menschen mit geistiger Behinderung eine Chance auf dem Arbeitsmarkt hätten. Er setzte andere Prioritäten und der Antrag verschwand in der Versenkung.

Klingt frustrierend – und dann?

Ja, zuerst waren wir ziemlich demoralisiert, aber wir blieben am Ball. Dann legte der Europäische Sozialfonds das HORIZON-Programm auf und wir sahen die Chance, dort mit unserem Vorhaben zu landen. Wir brauchten eine Co-Finanzierung von 40 Prozent und klopften wieder bei der Stadt an. Die Aussicht auf EU-Gelder führte bei dem neuen Leiter der Hauptfürsorgestelle zu einem plötzlichen Sinneswandel. Die neue Devise hieß: Nicht kleckern, sondern klotzen, und unser Budget betrug nun nicht mehr 1 Million, sondern 3,4 Millionen DM. Das Ziel wurde ebenfalls höhergesetzt, es lag bei stolzen 50 Vermittlungen in Festanstellungen in drei Jahren. Anfang 1992 nahmen fünf Mitarbeiter ihre Arbeit auf.

Nur Männer?

Wir hatten das anders geplant, aber ja, die ersten fünf waren ausschließlich Männer. Das Gute an dem EU-Projekt war: Es war eingebettet in ein europäisches Netzwerk von Projekten rund um das Thema Vermittlung und das kam der Arbeitsassistenz in der Folge sehr zu Gute. Bis heute war und ist sie immer wieder an Programmen beteiligt, die Vorgehensweisen und Materialien für den Zugang zum Arbeitsmarkt entwickeln, die dann auch von anderen Diensten genutzt werden: Talente, KUKUK, bEO, um nur einige zu nennen. Die Arbeitsassistenz hat nicht einfach das amerikanische Vorbild adaptiert, sondern eine eigenständige Variante der Unterstützten Beschäftigung entwickelt.

Wurde das Ziel der 50 Vermittlungen erreicht?

Ja, das gelang und das hat die Behörde überzeugt. Sie hat das Projekt in die Regelfinanzierung überführt, während andere vergleichbare Modellprojekte häufig wieder in der Versenkung verschwanden. Der Leiter der Hauptfürsorgestelle sagte später: "Ich habe schon viele EU-Projekte gesehen, aber die Hamburger Arbeitsassistenz war eines der wenigen, die nachhaltig etwas bewirkt haben." Für die Regelfinanzierung wählte die Behörde bewusst nicht den Weg der institutionellen Förderung, es gab kein festgelegtes Budget für Personal- und Sachmittel, sondern es war eine vermittlungs- bzw. erfolgsbezogene Finanzierung mit Pauschalen für jede Arbeitsbegleitung. Das war sicher eine kluge Lösung.

Konkurrenz belebt das Geschäft

War die Arbeitsassistenz tatsächlich für werkstattberechtigte Personen zuständig?

Ja, über lange Zeit konnten nur Werkstattberechtigte die Arbeitsbegleitung in Anspruch nehmen. Die Pauschalen lagen wegen des hohen Unterstützungsbedarfs deutlich über den Beträgen, die später die IFDs für die Vermittlung von nicht werkstattberechtigten Personen bekamen, aber sie blieben unter den Kostensätzen der Werkstätten. An Lohnkostenzuschüssen gab es nur das, was die Agentur üblicherweise für die Vermittlung Schwerbehinderter zahlte, also bestenfalls 80 % im ersten, 70% im zweiten und 60% im dritten und danach nichts mehr. Das änderte sich erst 20 Jahre später mit dem Budget für Arbeit und seinen dauerhaften Lohnkostenzuschüssen.

Wie standen die Werkstätten zur neuen Konkurrenz?

Unterschiedlich. Bis auf die Stiftung Alsterdorf waren Werkstätten in Hamburg städtische Unternehmen und die Stadt verlangte, dass sie Kooperationsverträge mit dem Fachdienst abschlossen. Konkurrenz und Ablehnung waren aber deutlich zu spüren, vor allem, als die Arbeitsassistenz einen eigenen Berufsbildungsbereich eröffnete. Weil sie keine Werkstattanerkennung hatte, ging das nur mit einer Weitergabe von BBB-Plätzen durch die Werkstatt, d.h. die Werkstatt beantragte die Maßnahme und überließ die Durchführung der HAA. Drei Werkstätten gaben lediglich drei Plätze ab, nur bei den Elbe-Werkstätten waren es sechs Plätze. Aber auch bei uns gab es Widerstand. Es war ja bekannt, was mein Anteil an der Entstehungsgeschichte der HAA war, und ich wurde vom Betriebsrat angegriffen, weil ich damit Personal-Arbeitsplätze in Gefahr brächte. Zum Glück stand der Geschäftsführer hinter der Kooperation und die Kritik verstummte bald wieder.

Haben die Werkstätten mit eigenen integrativen Angeboten reagiert?

Das haben sie, jedenfalls die Elbe-Werkstätten und später auch alsterarbeit. Wir haben schon früh unsere erste Außenarbeitsgruppe gestartet, die für die Aufsicht im neuen Museum der Arbeit zuständig war. Diese Gruppe gibt es immer noch. Danach wurden weitere Gruppen in Betriebe und zum Teil auch in Behörden ausgelagert. Ich habe in meiner Funktion als Reha-Koordinator für die Elbe-Werkstätten Ende der 90er Jahre das Qualifizierungsprojekt "Helfer in der Altenpflege" beantragt, gemeinsam mit der Lebenshilfe Gießen und finanziert aus Ausgleichsabgabemitteln. Auch da gelang es uns, das Projekt in ein Regelangebot zu übertragen, und zwar als Variante unseres Berufsbildungsbereichs. Das war das erste Mal, dass eine Regionaldirektion der Arbeitsagentur einen betriebsintegrierten BBB zuließ. Den Gießenern in Hessen blieb das noch verwehrt. Einige Jahre später wurde diese Variante aber in die Werkstättenverordnung aufgenommen.

Wo steht die Hamburger Arbeitsassistenz heute?

Die hat sich immer breiter aufgestellt. Sie wurde u.a. anerkannter Integrationsfachdienst und damit auch zuständig für neue Personenkreise. Und sie wurde Träger für eine Art Virtuelle Werkstatt, mit der die Berufsfindung und berufliche Integration nach dem BBB verlängert werden kann. Finanziert wurde diese Verlängerung aus Mitteln der Eingliederungshilfe. Die Maßnahme galt als "Sonstige Betriebsstätte", mit dem BTHG wird sie jetzt zum "Anderen Leistungsanbieter". In 30 Jahren hat die HAA weit über 1.000 Werkstattberechtigte und andere Personen mit Schwerbehindertenstatus in Arbeit vermittelt und hat jetzt einen Personalstamm von knapp 150 Mitarbeitern.

Und wie hat sich der inklusive Weg in den Hamburger Werkstätten weiterentwickelt?

Die drei städtischen Werkstattbetriebe wurden unter dem Dach der Elbe-Werkstätten fusioniert und gehen ebenso wie alsterarbeit den Weg der Dezentralisierung und Auslagerung weiter. 30 Prozent der Arbeitsplätze sind bereits betrieblich integriert. Einzelplätze gibt es zum Beispiel in Kindergärten oder Altenheimen, Arbeitsgruppen etwa bei der Lufthansatechnik, beim Gabelstaplerhersteller Still oder im zentralen Ersatzteillager von VW und Audi. Auch im Staatsarchiv, in der Unibibliothek oder in der Finanzbehörde gibt es ausgelagerte Arbeitsgruppen. In nicht allzu ferner Zukunft wird wohl die Hälfte aller Werkstattplätze in Hamburg ausgelagert sein.

Fazit

Wie stehst Du heute zu der Alternative Inklusionsunternehmen vs. Supported Empoyment in Betrieben?

Ich habe 1994 auch einen Inklusionsbetrieb mitgegründet, den Bergedorfer Impuls. Daraus ist ein Unternehmen mit vielen Qualifizierungsmaßnahmen geworden. Wenn man aber den Beschäftigungseffekt der Hamburger Arbeitsassistenz mit dem des Bergedorfer Impuls vergleicht, spricht alles für Supported Employment.

Die Arbeitsassistenz hat in ziemlich derselben Zeit 20x mehr dauerhafte, tariflich entlohnte Beschäftigungsplätze geschaffen als der Inklusionsbetrieb. Natürlich ist es kein Entweder – Oder, aber die Politik sollte als Alternative zur WfbM nicht allein auf Inklusionsfirmen setzen, sondern ein flächendeckendes Netz von Fachdiensten nach dem Vorbild der Hamburger Arbeitsassistenz schaffen.

Danke Dieter, für das Gespräch.

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