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Wo Werkstätten einen blinden Fleck haben und wie sie ihren Auftrag besser erfüllen können

Ein Interview mit dem Soziologen Reinhard Saal

Bild Wo Werkstätten einen blinden Fleck haben und wie sie ihren Auftrag besser erfüllen können
Aktenordner bzw. Hängeordner hinterandergereiht hängend von oben fotografiert. Sie sind mit "Ziele", "Programme", "Ressourcen", "Methoden", "Partner" und ähnlichem beschriftet.

 06. Dezember 2022 | Textbeitrag

  Berufliche Bildung, Durchlässigkeit und Übergänge, Kostenfreie Artikel

Vor 35 Jahren plante im hessischen Dieburg eine Gruppe von Reformern die Gründung eines Vermittlungsdienstes für psychisch Erkrankte. Ihr damaliges, optimistisches Credo lautete "Normalität heilt". Später schwächten sie es ab in "Normalität rehabilitiert". Schnell wurde ihnen klar, dass ihre Aktivitäten die Basis einer Werkstatt bräuchten. Die Dieburger Werkstatt wurde die erste WfbM mit einem überwiegend virtuellen Ansatz. Rund 60% ihrer Arbeitsplätze sind in Betrieben angesiedelt. Heute ist sie in der Trägerschaft der Nieder-Ramstädter Diakonie.

Der Soziologe Reinhard Saal war von Beginn an für die wissenschaftliche Begleitung des Projekts zuständig. In einem 53° NORD-Interview sagt er, wo er den blinden Fleck der Werkstätten sieht, wo die wesentlichen Rehabilitations- und Entwicklungsfelder der Beschäftigten liegen, warum der Doppelauftrag der Werkstätten häufig falsch verstanden wird, warum er für eine Differenzierung des Werkstattangebots eintritt und dass die "freie Wirtschaft" besser ist als ihr Ruf, weil Helfen ein menschliches Grundbedürfnis ist.

53° NORD: Herr Saal, Sie sind gelernter Soziologe, haben aber Ihr Berufsleben zum größten Teil in Werkstätten verbracht. Wie kam es dazu?

Reinhard Saal: Ich habe Sozialplanung studiert und nach dem Studium zunächst keine Anstellung gefunden. Dann bekam ich das Angebot, in Dieburg eine neue Werkstatt nach dem Supported-Employment-Ansatz mit aufzubauen. Das heißt, sie sollte von Beginn an Beschäftigte in Unternehmen unterbringen. Meine Aufgabe war es, das Projekt wissenschaftlich zu begleiten und die Ergebnisse auszuwerten. Wir starteten 1987.

Das war eine Reha-Werkstatt, also eine WfbM für psychisch behinderte Menschen, oder?

Genau, ein Werkstattangebot für Menschen mit psychischer Erkrankung.

Ist das Experiment gelungen, konnten Sie die Beschäftigten in Betriebe vermitteln?

Wir hatten das Glück, dass wir von Beginn an mit einem großen Unternehmen kooperierten, mit dem VW-AUDI-Vertriebszentrum Rhein-Main für Ersatz- und Zubehörteile (heute: VW-Originalteilelogistik). Unsere Klienten konnten dort schon während des Berufsbildungsbereiches einsteigen und wurden am Arbeitsplatz qualifiziert. In dem Betrieb gab es eine sehr zugewandte Atmosphäre, günstige Voraussetzungen für uns. Die Kooperation existiert heute noch.

Wie groß war der Anteil der Beschäftigten, die Sie in Betriebe vermittelt haben?

Bis zu 90 Prozent von allen, die in die Werkstatt kamen, haben eine Tätigkeit im Betrieb ausprobiert. Davon ist aber ein Teil nicht in der Firma geblieben und hat sich für die Werkstatt entschieden. Die hohe Anzahl war möglich, weil wir wirklich gute Bedingungen in den Betrieben hatten, eine intensive Begleitung und Förderung und die Möglichkeit, die Anforderungen auf die Person zuzuschneiden.

Was war das Ergebnis Ihrer wissenschaftlichen Begleitung?

Wir konnten zeigen, dass die Werkstatt eine Form des Supported Employment entwickeln und Reha-Erfolge erzielen kann, die weit über das hinausgehen, was konventionelle Werkstätten zu erreichen vermögen. Die besondere Wirksamkeit des Supported Employment wurde mittlerweile in mehreren wissenschaftlichen Evaluierungsstudien im deutschsprachigen Raum bestätigt. Ich denke, dass es der Zugang zur beruflichen Alltagswelt von Betrieben ist, der eine wirksame berufliche Sozialisation und Rehabilitation im Supported Employment ermöglicht.

Gab es noch weitere Ergebnisse?

Ich konnte die Entwicklung der Reha-Werkstatt über 25 Jahre statistisch erfassen: mit Angaben über die Reha-Verläufe, die Gründe für das Ausscheiden (Abbruch oder Erfolg), die Qualifikation der Rehabilitanden, die Belegung der Werkstatt-Zweige und die Veränderung der Klientel. Werkstatt-Statistik müsste ein Teil der Erfahrungsgrundlage sein, auf die sich die Weiterentwicklung der Werkstätten stützen sollte.

Die informelle Struktur: Der blinde Fleck der Werkstätten

Was ist für Sie die zentrale Aufgabe der Werkstatt? Was leistet sie und was leistet sie nicht?

Die Aufgabe der Werkstatt besteht darin, Lebenschancen zu eröffnen und Inklusionsprozesse ins Arbeitsleben zu ermöglichen. Werkstätten sind gut darin, Qualifikationsangebote zu machen, zu schulen, beruflich einzuarbeiten.

Neben der formalen Ebene gibt es aber auch eine informelle, teils unbewusste Ebene, die für die Befähigung und Motivation der Person wichtig ist. Und da sind Werkstätten nicht so gut, weil sie das nicht erkennen. Da haben sie einen blinden Fleck.

Können Sie das erläutern?

Die Arbeitswelt hat zum einen eine formale Struktur. Es gibt Funktionsträger mit unterschiedlichen Aufgaben und festgelegte Arbeitsabläufe. Auch für die Berufsbildung gibt es die feststehenden Lerninhalte, Curricula und Rahmenbildungspläne. Das ist der sichtbare, der bewusste Teil.

Alle Vorgänge, alle Handlungen sind aber auch durch eine informelle Handlungs-Koordination gedeckt. Das sind eigene Regeln in den sozialen Beziehungen, Hierarchien, Belohnungs- und Bestrafungsmöglichkeiten. Hier wird z.B. entschieden, ob jemand in der Firma willkommen ist, ob er unterstützt wird, welche Gestaltungsmöglichkeit er bekommt. Diese informelle Ebene setzt dem Management Grenzen, kann zum Beispiel Leistungsdruck abfedern. Für die Teilnahme an beruflichen Alltagswelten ist diese Ebene oft wichtiger als die formale.

Haben Sie ein Beispiel?

Ja, auf Vox gab es gerade die Fernsehserie "Zum Schwarzwälder Hirsch – eine außergewöhnliche Küchencrew und Tim Mälzer". Dort hat der Fernsehkoch dreizehn Menschen mit Down-Syndrom dazu befähigt, alle Arbeiten in einem Restaurant zu erlernen. Das Ziel war, dass sie das Lokal nach einer drei-monatigen Schulung eigenständig betreiben, mit allem was dazugehört.

Was in der Sendung sehr schön sichtbar wurde: Einerseits ging es um die formale Qualifizierung: Wie vorsichtig verwendet man beispielsweise Salz? Wo die Qualifizierung nicht gelang, musste die Arbeit behinderungsgerecht strukturiert werden. Wie hilft man sich beispielsweise bei Mengenangaben, wenn man nicht lesen oder zählen kann? Dazu wurde ein bebildertes Kochbuch entwickelt, wo farblich gekennzeichnete Kellen die Menge angeben.

Aber der eigentliche Kernpunkt war: Die Klienten durchliefen in der Schulungsphase mit Tim Mälzer eine Art Persönlichkeitsentwicklung. Sie lernten, verantwortlich zu sein, achtsam zu sein, zusammenzuarbeiten usw. Das ist gemeint mit sozialintegrativen Prozessen und diese Entwicklung bildet die Sendung eindrucksvoll ab.

Ist der Schwachpunkt der Werkstätten Ihrer Meinung nach, dass sie die informellen Prozesse nicht erkennen, dass sie sie nicht ändern wollen oder nicht ändern können?

Sie sehen sie nicht. Und die Prozesse sind in der WfbM erheblich anders strukturiert als in der Arbeitswelt außerhalb der WfbM. Das ist einer der Gründe, warum Supported Employment der konventionellen Förderung überlegen ist. Das Problem der Werkstattbeschäftigten ist ja nicht, dass sie keine Tätigkeiten erlernen könnten. Schon gar nicht Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen, die oft Qualifizierungen und berufliche Vorerfahrungen mitbringen.

Zum Problem wird eher die teils unbewusste informelle Handlungskoordination im Arbeitsalltag. Die Werkstatt kann dieses Trainingsfeld nicht vollwertig simulieren. Beim Supported Employment sind die Klienten in einer Welt, in der die Probleme sichtbar werden, wo die Person sich ihnen stellen und Lösungen entwickeln kann.

Was heißt das für die Werkstatt?

Entweder kooperiert sie eng mit der normalen Arbeitswelt oder sie passt sich selber dieser betrieblichen Alltagswelt mit den entsprechenden Rollenkonzepten an.

Was ist denn in der Werkstatt so anders als in der Arbeitswelt? Zu viel Pädagogik?

Nein, es braucht ja Pädagogik, es braucht die Experten, die darauf achten, dass die Menschen zu ihrem Recht kommen und die sozialintegrativen Prozesse ermöglicht werden. Leider macht sich zum Teil eine Haltung breit, die Pädagogik abzuwerten. Das halte ich für falsch. Aber es muss ein Bewusstsein dafür geben, was das Feld der Pädagogik sein soll und sein kann. Das, was bei Tim Mälzer passiert ist, die Verantwortungsübernahme, Selbstbewusstsein zu entwickeln und Selbstwirksamkeit zu erleben, das ist ja der Kern der Pädagogik.

Die Frage ist: Wo setzen wir an, damit die Leute den Alltag hinbekommen? Wie befähigen wir sie, Leistungen zu erbringen und mit sich zufrieden zu sein? Das muss erst einmal als zentrale Aufgabe ins Bewusstsein. Und dann muss die Werkstatt die entsprechenden Entwicklungsfelder öffnen, indem sie beispielsweise teilautonome Gruppenarbeit ermöglicht, mehr Verantwortung an die Beschäftigten abgibt.

Werkstatttrollen: Rollenmix und die Dominanz der Betreuung

In Ihren Publikationen betonen Sie die Unterschiede in den Rollenzuschreibungen zwischen der WfbM und den Betrieben. Können Sie das erläutern?

Ich bin ja im Moment Mitarbeiter im Fachdienst für berufliche Integration, der die Leute in Betriebe vermittelt und dort begleitet. In der Werkstatt gehöre ich zum Personal, meine Klienten aber nicht. Das ist ein starkes Hierarchieverhältnis. Im Betrieb gehören sie zum Personal und ich bin Außenstehender. Da bin ich als Dienstleister in einer ganz anderen Rolle, obwohl es auch um Unterstützung geht. Schaut man sich die Werkstatt genauer an, dann sind speziell in der Funktion der Gruppenleiter verschiedene Rollen gebündelt, die in anderen Firmen getrennt sind. Sie sind Unterrichtende bzw. berufliche Anleiter, disziplinarische Vorgesetzte, Vorarbeiter und Fachleute für die Produktion.

Ist das schlimm?

Es prägt die berufliche Sozialisation, die sozialintegrativen Prozesse in der Werkstatt. Das Betreuungsverhältnis in der Werkstatt lässt sich natürlich verschieden ausfüllen und wird ja auch von Werkstatt zu Werkstatt, von Person zu Person unterschiedlich gelebt. In der Werkstatt-Struktur lässt sich dieses Verhältnis nicht gänzlich aufheben, aber man kann den Effekt abmildern. Dafür ist es hilfreich, sich das Normalisierungsprinzip zu eigen zu machen, wo der Klient nur so viel Unterstützung bekommen soll, wie er tatsächlich benötigt. In einer Interaktionssituation mit einem Klienten sollte man sich vergegenwärtigen, wie man sich in derselben Situation bei einem Kollegen verhalten würde, also von der Normalitätsannahme auszugehen, um ein angemessenes Verständnis der Situation zu entwickeln und das Verhalten entsprechend zu steuern.

Das ist nach Ihrer Beobachtung nicht die Regel?

Wie gesagt, das lässt sich nicht verallgemeinern, aber nein, die Rollenzuschreibung "Betreuer und Betreute" ist sehr dominant und wir tun uns alle schwer, Verantwortung zu übertragen. Das hat natürlich auch etwas mit Machtstrukturen zu tun.

In der Werkstatt wird man diese Überlegungen sicher nicht gerne hören.

Das ist ja keine Anklage, ich bin selber auch Teil einer Werkstatt. Auch wenn man sich im Sinne des Normalisierungsprinzips kontrolliert, gibt es viele unbewusste Prozesse, die einem in der Interaktion durchrutschen. Unser Kontext gibt ein hierarchisches Verhältnis vor. Nochmal: Der Arbeitsalltag in einer normalen Firma wäre für die meisten Werkstatt-Klienten förderlicher als die Alltagswelt einer Werkstatt. Auch geeigneter als die jeder anderen konventionellen Fördereinrichtung, die auf diesem Feld arbeitet.

Falsch verstandener Doppelauftrag und die Entwicklungsfelder der Beschäftigten

Sie beschreiben die WfbM als "pädagogische Maßnahmenwelt". Was meinen Sie damit?

Die Denkfigur vom Doppelauftrag der Werkstatt ist meiner Meinung nach fehlinterpretiert, wenn man dabei die Produktion gegen die Persönlichkeitsentwicklung ausspielt. Das gehört zusammen. Die Produktion, also das Feld, auf dem man zusammenarbeitet, ist auch das Feld, auf dem Entwicklung stattfinden kann, wo man lernen kann, an der beruflichen Alltagswelt teilzunehmen. Der Doppelauftrag der Werkstätten darf nicht so verstanden werden, dass es abgetrennte Bemühungen zur Persönlichkeitsförderung braucht. Berufliche "Soft Skills" entstehen in der Berufsausübung. Es ist zwar in Ordnung, wenn Werkstätten beispielsweise Angebote für die sportliche Fitness machen. Der bedeutendere Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung ist aber auf den Arbeitsalltag bezogen, nicht auf freizeitförmige Angebote.

Übrigens: Sich mit der Arbeit auseinanderzusetzen und sich darin weiterzuentwickeln, kriegen auch ganz schwache Leute hin, wenn sie die entsprechenden Herausforderungen haben. Leute, die kaum sprachliche Ausdrucksmittel haben, sind dennoch in der Lage, sich zu koordinieren und zusammenzuarbeiten. Der Doppelauftrag der Werkstatt lautet also: Über die Produktion die Fähigkeit herzustellen, sich in der beruflichen Alltagswelt einbringen zu können. Das ist das Ziel und das ist auch letztlich das menschlich Befriedigende.

Welche Fähigkeiten müssen die Klienten entwickeln?

Dazu gehören viele Faktoren und nicht alle können unsere Klienten erlernen. Dann muss man überlegen, wie sich die kompensieren lassen. Aber das geht uns ja allen in unserer arbeitsteiligen Arbeitswelt so: Der eine hat hier seine Stärken, der andere dort. Zu den grundlegenden Fähigkeiten, die unsere Klienten erlernen sollten, gehört es, die eigene Belastung und auch die Belastungsgrenzen wahrzunehmen. Die richtige Balance findet man nur im Vollzug, am Arbeitsplatz, das geht nicht theoretisch. Und wenn man das für sich gefunden hat, muss man die Erwartungen des Betriebes erkennen und ggf. verändern. D.h. man muss den Kollegen klarmachen, wo die eigenen Grenzen liegen. Kommunikation, Selbstbehauptung und Durchsetzungsfähigkeit gehören also auch dazu.

Beim Wechsel in einen Betrieb beobachten Sie oft in kurzer Zeit große Veränderungen.

Ja, das ist manchmal verblüffend und hat wohl mit dem Selbstwertgefühl zu tun. Das erzeugt ein anderes Bewusstsein. Als Förderprinzip bewährt sich eine mäßige Überforderung. Für jede Entwicklung muss die Anforderung höher sein als das, was jemand bereits leistet. Setzt man Anforderungen zu niedrig an, kommt jemand nicht auf sein mögliches Entwicklungs-Niveau.

Gibt es Unterschiede in dem, was die Werkstatt für Menschen mit einer psychischen Behinderung bzw. einer geistigen Behinderung leisten muss?

Das Problemfeld ist für beide Gruppen grundsätzlich das gleiche: Die Eingliederung in die berufliche Alltagswelt. Bei geistig behinderten Menschen geht es in der Regel um die berufliche Erstsozialisation, verbunden mit den Problemen der Adoleszenz, etwa der Ablösung vom Elternhaus. Psychisch behinderte Menschen bringen meist schon Berufserfahrungen mit. Da geht es um eine Neujustierung der beruflichen Sozialisation, nach der Erkrankung die eigene Leistungsfähigkeit wieder zu steigern und Belastungsgrenzen wahrzunehmen.

Plädoyer gegen die Einheitswerkstatt

Sie sprechen sich gegen die Einheitswerkstatt aus. Weshalb?

Werkstätten müssen mit ihrem Angebot den Zielgruppen, ihren Erfordernissen und Bedürfnissen gerecht werden. Deswegen denke ich, dass sie ihre Angebote noch weiter differenzieren müssen. Dazu muss es unterschiedliche Werkstatttypen geben. Ich finde es eine Diskriminierung, alle in einen Sack zu stecken nach dem Motto: Ihr seid ja alle behindert, also kommt ihr alle in die gleiche Einrichtung. In den 80er Jahren, als das Klientel noch gemischt war, gab es zum Teil sehr große Probleme aufgrund der unterschiedlichen Stärken und Schwächen.

Inklusion heißt aber, Separierungen aufzuheben und Unterschiedlichkeit zuzulassen.

Letztendlich ja, aber in der Reha-Phase gibt es unterschiedliche Herausforderungen und Problemstellungen. Sie zu ignorieren, wäre etwa so, als wenn Sie einem Menschen mit orthopädischen Problemen sagen würden, er könne auch zum Zahnarzt gehen, weil der auch für die Gesundheit sorgt. Unterschiedliche Probleme brauchen unterschiedliche Angebote. Differenzierung hat natürlich ihre Grenzen, aber die zwischen geistig Behinderten und psychisch Behinderten halte ich für sinnvoll.

Kritiker bezeichnen die WfbM gerne als Sonderwelt. Würden Sie sich dem anschließen?

Die Bezeichnung Sonderwelt ist ein Schlagwort, das zur Abwertung dienen soll, welches aber das Problem nicht bezeichnet. Alle Lebenswelten unterscheiden sich und sind so gesehen Sonderwelten. Meine Alltagswelt und Ihre sind unterschiedliche. Jede Firma bildet eine Sonderwelt. Das bezeichnet nicht das Problem der Werkstätten. Wenn man versucht, Werkstätten produktiv zu kritisieren, dann sollte man, wie gesagt, die Rollenballung des Personals benennen, die man splitten und in verschiedene Sektoren aufteilen müsste.

Brauchen wir die Werkstatt überhaupt noch?

Ja, davon bin ich sehr überzeugt. Es wird immer Klienten geben, die auch bei bester Förderung auf die Werkstatt angewiesen bleiben. Im Bereich der psychisch Erkrankten sind das die mit einer Negativsymptomatik, also mit Symptomen wie sozialem Rückzug, Apathie und Affektverflachung. Wie gesagt, bei uns in Dieburg zog ein Teil der Beschäftigten eine Tätigkeit in der Werkstatt dem Betrieb vor. Für manche ist das gar keine Option, die würden Sie eher dazu bringen, sich zu suizidieren als in eine Firma zu gehen.

Kann man also jemanden von Vornherein von der Vermittlung ausschließen?

So eindeutig ist es auch nicht. Ich habe in meinem Berufsleben lernen müssen, dass wir keine Vorauswahl treffen sollten. Es gab immer wieder Fälle, bei denen unsere Prognose falsch war. Leute, die wir nur aus der Not heraus in einen Betrieb gebracht haben, weil wir dort jemand brauchten und die sich dort wohlgefühlt haben. Und Leute, die wir für topfit hielten, und die nicht zurechtkamen.

Ist das Zufall oder gibt es ein Erfolgskriterium für den Integrationserfolg?

Das liegt auf der Ebene des Arbeitsalltags. Wie jemand in eine Firma hineinkommt, wie sich die Beziehungen gestalten, ob das zusammenpasst, welche Offenheit auf beiden Seiten da ist und wie sich das dann entwickelt.

Helfen ist ein menschliches Grundbedürfnis

Sie betonen aber auch, dass in Firmen eine grundsätzliche Bereitschaft zur Integration gegeben ist. Das Bild von der gnadenlosen, kalten Arbeitswelt stimmt also nicht?

Zum einen ist es ja nicht so, dass wir in den anonymen "Markt vermitteln", wie das immer heißt. Unsere Arbeitsplatz-Akquisition braucht spezielle Bedingungen, besondere Vereinbarungen und Absprachen, ein Einarbeiten und Begleiten, das es in der Arbeitswelt sonst nicht gibt. Wir umgehen den Markt und suchen den Zugang zu Arbeitswelten, die sich an die Bedürfnisse unsere Klienten anpassen.

Zum anderen: Ja, die Hilfsbereitschaft der Kollegen in den Betrieben wird oft unterschätzt. Helfen ist ein menschliches Grundbedürfnis und das findet man auch in Betrieben. Diese Hilfsbereitschaft stößt aber an Grenzen und kann leicht überfordert werden. Da muss man schauen: Was brauchen die Kollegen an Unterstützung? Manchmal brauchen sie mehr Unterstützung als unsere Klienten. Aber das grundsätzliche Engagement ist immer wieder erstaunlich.

Zusammengefasst: Was ist Ihre Empfehlung an die Werkstätten?

Werkstätten sollten einen großen Anteil an betriebsintegrierten Erfahrungsmöglichkeiten in ihrem Portfolio haben, und zwar schon im Berufsbildungsbereich. Sowohl als Gruppen- als auch als Einzelplatzangebot.

Sollte jemand gleich in die Firma gehen und gar nicht erst in die WfbM kommen?

Bei vielen unserer Klienten war das so und das hat sich bewährt. Bei anderen gab es zunächst ein internes Kennenlernen. Manchmal dauerte es auch noch länger, bis jemand sich fit genug fühlt. Aber wenn wir die Klienten motivieren konnten, dann sind sie zu einem ganz frühen Zeitpunkt in die Firma gegangen.

Ihr Rat heißt also: Berufliche Rehabilitation möglichst früh in den Betrieb zu verlagern, mit guter fachlicher Unterstützung der WfbM.

Genau, diese Unterstützung ist das Entscheidende.

Wie sollten die Werkstätten das Angebot strukturieren, das sie selber noch vorhalten?

Sie sollte eine andere Sozialstruktur hinbekommen. Mehr Verantwortung für behinderte Menschen ermöglichen, mehr teilautonome Gruppenarbeit, wo immer das geht.

Gilt das für beide Gruppen? Geistig und psychisch Behinderte?

Ja, das gilt für beide gleichermaßen. Manche Werkstätten sind auf dem Weg schon weit vorangeschritten. Beschäftigte fahren Firmenfahrzeuge und übernehmen andere Aufgaben, die sonst nur dem Personal vorbehalten sind. Und auch die Zahl der betriebsintegrierten Beschäftigungsplätze vergrößert sich. In Hessen sind wir bei 7,5 Prozent der Werkstattbeschäftigten.

Welche Zielgröße halten Sie für möglich bzw. für sinnvoll?

Meine Erfahrungen beziehen sich auf unsere Reha-Werkstatt. In Dieburg liegen wir in 25 Jahren zwischen 50 und 70, wobei die Region wirtschaftlich gut aufgestellt ist. Wo das nicht gegeben ist, ist das vielleicht nicht ganz zu erreichen.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Saal.

Literaturhinweis

Reinhard Saal: Sonderwelten und Übergänge. Anmerkungen zu einem Schlüsselbegriff der Werkstattkritik. Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik; Band 118, Juni 2022, Heft 2, pp 350-363; https://doi.org/10.25162/zbw-2022-0014

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