Mehr Freiraum für P-Werkstätten?
Die Meinung der KLARER KURS-LeserInnen und die Antworten des BMAS
Paragraf 1 der WVO schreibt die Einheitlichkeit der Werkstatt vor. Der Personenkreis, nach dem sich diese ursprüngliche WfbM-Konzeption maßgeblich richtete, war der, der geistig und kognitiv eingeschränkten Menschen. Aktuell arbeiten jedoch auch 70.000 Menschen mit einer psychischen Erkrankung bundesweit in Werkstätten, Tendenz steigend. Benötigt dieser Personenkreis in Bezug auf die kognitiven und intellektuellen Möglichkeiten nicht ein differenzierteres Arbeits- und Bildungsangebot?
Die Ergebnisse unsere Leserbefragung
In der letzten Ausgabe unseres Newsletters berichteten wir über einen Entwicklungsworkshop der gpe Mainz, eines Trägers mit WfbM-, Integrationsbetriebs- und Zuverdienst-Angeboten für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Er erarbeitete Ideen für eine zielgruppenspezifische Umgestaltung der Werkstatt und eine Verknüpfung seiner Leistungen, die auch die gemeindepsychiatrischen Hilfen mit einbeziehen sollen. Wir verbanden den Bericht mit einer Umfrage unter unseren Lesern und fragten auch im BMAS (Bundesministerium für Arbeit und Soziales) nach, ob eine entsprechende Öffnung in der Gesetzgebung geplant sei.
Die Frage an unsere Leser lautete: "Sollten die einheitlichen gesetzlichen Rahmenbedingungen der Werkstatt gelockert werden, um den Besonderheiten von Menschen mit einer psychischen Behinderung Rechnung zu tragen?" Das Ergebnis: 100% der Teilnehmenden antworteten mit "Ja". In einem Zusatzfeld hatten die Befragten die Möglichkeit, ihre Antwort zu begründen. Hier ihre Aussagen:
- "Ich arbeite selbst in einer WfbM und kann den Argumenten des dazugehörigen Artikels voll zustimmen."
- "Diese Personengruppe benötigt schon immer ein differenziertes Angebot im Rahmen der WVO, d.h. die Rahmenbedingungen können gelockert oder einfach anders ausgestaltet werden. Träger mit Inklusionsfirmen bzw. ‚andere Anbieter‘ tun dies auch schon länger und es gibt soziale Unternehmen, die differenziert Zuverdienst, Werkstatt und Inklusionsarbeitsplätze unter einem Dach organisieren."
- "Die gesetzlichen Rahmenbedingungen sind in der Mehrheit auf die Werkstätten für geistig behinderte Menschen ausgerichtet und nehmen die Besonderheiten der Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung nicht in den Fokus. Es bedarf einer guten Portion an Mut seitens der Leitungen in P.- Werkstätten, ihre Vorstellungen, die manchmal nicht ganz dem Gesetz entsprechen, durchzuhalten und die bestmögliche Förderung dieser Menschen zu ermöglichen."
- "Mehr Flexibilität der Arbeitszeiten ohne Kürzungen für den Leistungsanbieter."
- "Die Anforderungen von und für Menschen mit psychischen Erkrankungen unterliegen ständigen Veränderungen und Dynamiken. Dies kennen alle Experten aus der langjährigen Praxis. Flexibilität von Rahmenbedingungen ist hier ein hoher Wert, jegliche Barriere kann das Stöckchen zu viel sein und der Verlust der oftmals einzigen Anbindung ins Hilfesystem (über die Werkstatt) bei Erkrankung oder Krisen ist ein Wegfall eines wichtigen stützenden Faktors zur Unzeit."
- "Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung haben oft Erfahrungen auf dem ersten Arbeitsmarkt und können sehr intelligent sein. Sie brauchen einen ‘mehr erklärenden Ansatz der Lebenswelten, die sie umgeben’, wofür eine Gruppensituation und auch ein einziger GL weder die Zeit noch die entsprechende Ausbildung haben. Außerdem sind die meisten Arbeiten in einer Werkstatt sich oft wiederholende, niederschwellige Tätigkeiten, die eher Frustration auslösen und den Kompetenzen dieser Beeinträchtigungsgruppen nicht gerecht werden."
- "Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass Menschen mit psychischer Erkrankung andere und flexiblere Bedürfnisse haben. Daher wäre eine Lockerung der Rahmenbedingungen auf jeden Fall sinnvoll. Allerdings sind bei uns in den Werkstätten auch zunehmend Personen, die keine eindeutige P-Diagnose haben. Oft sind es Personen mit einer Lernbehinderung und besonderen sozialen Schwierigkeiten, die sie hindern auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Sie sind zu leistungsstark für eine klassische G-Werkstätte, aber nicht psychisch krank. Für die Aufnahme in einer Werkstätte für Menschen mit einer psychischen Behinderung ist dann eine P-Diagnose notwendig. Das finde ich nicht richtig, weil Personen dadurch eine Zuordnung (und evtl. Stigmatisierung) bekommen, die nicht zu ihnen passt. Daher bin ich grundsätzlich für eine flexiblere Handhabung und halte die strikte Trennung von G- und P- Werkstätten für überholt und nicht praxisgerecht."
- "Menschen mit psychischen Erkrankungen weisen unterschiedliche Bedarfe, unterschiedliche Leistungsfähigkeiten (Ausdauer, Belastbarkeit...) auf. Die derzeitigen Rahmenbedingungen werden den individuellen Bedarfen nicht gerecht."
- "Wir arbeiten (im Sinne unserer Klienten und Klientinnen) schon länger im Graubereich der gesetzlichen Vorgaben und passen nach und nach in dem uns bislang zur Verfügung stehenden Rahmen unsere Konzepte an. Individuellere, nach den Bedarfen zugeschnittene und flexiblere Handhabung der Anwesenheitszeiten fördert die Belastungssteuerung und Stabilisierung der KlientInnen. Eine flexiblere Gestaltung der Beruflichen Bildung (BBB) findet in unserer Realität schon statt, weg von der reinen Anwendung/Abarbeitung von Bildungsrahmenplänen, hin zu Reduzierung und Anpassung dieser sowie casemanagementähnlicher Bildungsbegleitung - und Steuerung."
- "Es gehört zum Krankheitsbild, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen immer wieder über 42 Tage ausfallen. Wenn dann die Begleitung der Personen über die WfbM, aufgrund der Beendigung der WfbM-Refinanzierung aussetzt, kann keine Unterstützung in der Krise sichergestellt werden. Aber die Bezugspersonen der Werkstatt und die Tagesstruktur, die durch eine Werkstatt geboten werden, sind wesentliche Faktoren für eine schnellere Gesundung, Die Werkstatt kann auch in Krankheitsphasen Hilfen bieten, um in antriebslosen Krankheitsphasen den Lebensmut zurückzugewinnen und in die Gemeinschaft zurückzukehren."
Umfrageergebnis
Die Position des BMAS
In unserer Anfrage beim zuständigen Ministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) wollten wir wissen, ob es den Bedarf an mehr Gestaltungsfreiraum für Werkstätten für Menschen mit psychischer Behinderung teilt und ob entsprechende Lockerungen in der Gesetzgebung geplant sind.
In der Antwort verwies der Sprecher darauf, dass der Grundsatz der einheitlichen Werkstatt (§ 1 WVO) der Unterschiedlichkeit von Behinderungen in der WfbM bereits durch geeignete Maßnahmen, die Bildung besonderer Gruppen und spezialisierter Werkstätten Rechnung trage. Änderungen des § 1 WVO seien nicht beabsichtigt. Das gelte auch für die Werkstättenverordnung als Ganzes. Sollten sich punktuelle Änderungen als notwendig erweisen, würde das BMAS diese vorschlagen.
Auf die Frage nach konkreten Ausgestaltungsmöglichkeiten der Werkstätten für psychisch behinderte Menschen und einer möglichen Öffnung für andere Anbieter antwortete der Sprecher, das Bundesteilhabengesetz habe die Eingliederungshilfe von zuvor überwiegend einrichtungszentrierten hin zu personenzentrierten Leistungen neu ausgerichtet. Die Budgets für Arbeit und Ausbildung und die anderen Leistungsanbieter böten außerdem gerade für Menschen mit psychischer Behinderung Alternativen zur WfbM und neue Perspektiven für die Teilhabe an Arbeit. Ziel des BMAS sei es, diese Alternativen weiter zu stärken, sie für einen größeren Personenkreis zu öffnen und dabei bestehende Übergangshemmnisse zu beseitigen. Entsprechende Maßnahmen fänden sich im Aktionsplan des BMAS für Übergänge aus den WfbM auf einen inklusiven Arbeitsmarkt.
Generell sei die Förderung von Übergängen von geeigneten Personen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt eine der gesetzlichen Aufgaben der WfbM und dies solle auch so bleiben. Unter anderem sei geplant, dass WfbM mit den Kostenträgern verpflichtend Ziele zur Anzahl bzw. Quote und von Übergängen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vereinbarten. Daneben sehe der Aktionsplan vor, dass externe Fachdienste wie die IFDs noch stärker in die Übergangsbegleitung von ausgelagerten Arbeitsplätzen eingebunden würden. Link zur kompletten Antwort des BMAS
FAZIT
Die Frage, ob eine Lockerung oder Veränderung der Rahmenbedingungen für eine P-Werkstatt sinnvoll wäre, beantworteten alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen unserer Umfrage mit einem eindeutigen "Ja". Das enge Werkstattkorsett würde dem Personenkreis psychisch behinderten Menschen nicht gerecht, ihre Erkrankung, ihre speziellen Bedürfnisse und Anforderungen machen andere Angebote und Regelungen notwendig. Dabei geht es um bedarfsgerechte Möglichkeiten, flexiblere Arbeitszeiten, einen niedrigschwelligen Einstieg ohne Stigmatisierungsgefahr sowie sozialpsychiatrische Fachkenntnisse.
Aber auch berufliche Bildung erfordere eine andere Ausgestaltung. "Weg von der Abarbeitung von Bildungsrahmenplänen hin zu einer casemanagementähnlichen Bildungsbegleitung". Also eine Qualifizierung, die dann einsetzt, wenn die Person sie benötigt.
Das BMAS hingegen sieht keinerlei Anpassung an die Bedarfe dieses Personenkreises. Sowohl die Möglichkeit zur Bildung besonderer Gruppen und spezialisierter WfbM als auch die durch das BTHG geschaffenen Instrumente reichten laut BMAS aus, um den Besonderheiten Rechnung zu tragen. Was schade ist, denn im Arbeitsbereich der Werkstatt ist der Anteil der Menschen mit einer geistigen Behinderung in den vergangenen 10 Jahren um 3,9 Prozentpunkte zurückgegangen. Der Anteil von Menschen mit einer seelischen Behinderung nahm jedoch im gleichen Zeitraum um fast 3 Prozentpunkte zu. Es ist gut zu wissen, dass es Werkstätten gibt, die das bestehende Korsett im Sinne ihrer Klienten bereits jetzt im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu nutzen wissen.
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