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Ohne Liebe kann man Holz hacken...

Ein Kommentar von 53°NORD

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 11. September 2023 | Textbeitrag

Fragt man Heiner Müller, was das Beste an der Werkstatt ist, sagt er ohne Zögern: »Dass ich mich gut mit Michael verstehe.« Michael ist sein Gruppenleiter. Von dem weiß er, dass er ihn mag, dass er ihn ernstnimmt, dass er ihm etwas zutraut. Für die meisten Beschäftigten ist die Beziehung zu Gruppenleitern und Kollegen tatsächlich das Wichtigste an ihrer Arbeit.

In der Behindertenhilfe drehte sich die Diskussion in den letzten Jahren viel um die Begriffe »Qualität«, »Wirkung« und »Wirksamkeit«. Die Definition von Qualität und Wirkung mutet oft technokratisch an und bezieht sich nicht auf die Lebens- oder Beziehungsqualität der Menschen. Ihre Messungen, ihre Kennzahlen sollen vor allem Lernzuwächse und Entwicklungen dokumentieren. Die Zielrichtung unserer Behindertenarbeit ist nicht in erster Linie das »So-Sein-Dürfen«, die Anerkennung, Wertschätzung und Akzeptanz der Person mit all ihren Besonderheiten. Es ist das »Ändern-Wollen«, die Minimierung behinderungsbedingter Defizite. Was die Betroffenen selbst als Qualität empfinden, welche Wirkung sie sich von ihrem Unterstützungsangebot wünschen, ermittelt das System nicht. In Bezug auf die Betreuungsqualität würden sie sagen: »Der Betreuer soll Interesse an mir haben«, »Ich soll ihm wichtig sein«, »Er soll Zeit für mich haben«, »Er soll mich für voll nehmen«, »Er soll mit etwas zutrauen« oder »Wir sollen Spaß miteinander haben«.

Jede soziale und pädagogische Arbeit wird vor allem von der menschlichen Grundhaltung bestimmt. Ohne eine gute und sichere Beziehung bleiben die im Qualitätsmanagement und in der Wirksamkeitsmessung definierten Aspekte Stückwerk. Um es mit einem abgewandelten Paulus-Zitat zu sagen: »Wenn ihr von Teilhabe und Inklusion redet, Entwicklungspläne schreibt, Fortbildungen und Supervisionen besucht, liebt aber die Menschen nicht, so bedeutet dies nichts« (Das Hohelied der Liebe, 1. Korintherbrief).

Begriffe wie Zuneigung oder Sympathie entziehen sich der Qualitäts- und Wirksamkeitsmessung. Wegen ihrer zentralen Bedeutung müssen sie dennoch zum Thema werden. Gerade im Bereich der sozialen Beziehung zwischen Betreuern und Betreuten wird – trotz aller Qualitätsdiskussionen – viel gesündigt. Es mutet paradox an, wenn gerade die mit der Qualitätssicherung verbundene Büroarbeit die entscheidende Qualität für die Betreuten verringert, weil sie ihnen Aufmerksamkeit und Kontakte entzieht. Personalmangel, starre Hierarchien, der Einsatz von Aushilfskräften und Zeitverträge sind auch in der Behindertenhilfe leider allzu häufig anzutreffen. Ein sicherer Arbeitsplatz, ein offenes, angstfreies, entspanntes Betriebsklima und ein respektvolles Umgehen auf Augenhöhe sind aber die besten Bedingungen für eine gute Beziehungsqualität in der Betreuung. Eine Prise Humor kann ebenfalls nicht schaden.

Aber auch die Arbeitnehmer selbst sind in der Pflicht. Wer sich für die Arbeit mit Menschen nicht eignet, hat in der Behindertenhilfe nichts verloren. Schon in den Bewerbungsrunden sollte die Haltung ein zentrales Thema sein und es kann helfen, Menschen mit Behinderung in die Auswahl einzubeziehen. Wenn jemand nicht selbst die Einsicht hat, sich nicht für diese anspruchsvolle Aufgabe zu eignen, sollte der Arbeitgeber ihm oder ihr den Wechsel in einen anderen Beruf nahelegen, schließlich sind gerade Menschen mit schweren Behinderungen ihrem Umfeld am meisten ausgeliefert.

Leo Tolstoi hatte sicher recht mit seiner Erkenntnis: »Ohne Liebe kann man Holz hacken, Ziegel formen, Eisen schmieden. Aber ohne Liebe kann man nicht mit Menschen umgehen.«

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