"Alte Menschen und Menschen mit Lernbeeinträchtigung, das ist eine tolle Kombination"
Erfahrungen von Nina Wittwer, Fachdienst Fortbildung und Entwicklung bei den Elbe-Werkstätten

Seniorenbetreuung und Menschen mit geistiger Beeinträchtigung – passt das zusammen? Bereits Ende der 90er Jahre waren die Elbe-Werkstätten und die Lebenshilfe Gießen von dieser Idee überzeugt. Gemeinsam beantragten sie ein Projekt aus Mitteln der Ausgleichsabgabe, um ein Konzept dafür zu entwickeln. Entstanden ist daraus der Qualifizierungsgang "Helfer in der Altenpflege", der in den Elbe-Werkstätten bis heute unter der Bezeichnung"„Alltagshelfer" fortgeführt wird. Seither arbeiten zahlreiche Werkstattbeschäftigte auf ausgelagerten Plätzen in Altenheimen, Altentagesstätten und auch in Förderstätten für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf.
Wir sprachen mit Nina Wittwer, die vor sechs Jahren die Qualifizierung übernommen hat. Die Ergotherapeutin war zuvor Fachkraft zur Arbeits- und Berufsförderung (FAB) im Arbeitsbereich und im BBB. Für sie sind die Alltagshelfer ein Gewinn für alle Beteiligten und der Qualifizierungskurs bietet einen idealen Einstieg in dieses Arbeitsfeld.
Das sagt Nina Wittwer über …die Aufgaben der Alltagshelfer:
"Die meisten arbeiten in Senioreneinrichtungen oder Tagesförderstätten. Dort werden sie nicht in der Pflege eingesetzt, sondern sind in der Tagesgestaltung tätig. Die Pflege ist deshalb ausgespart, weil sie dafür eine entsprechende Ausbildung bräuchten und auch leicht überfordert sein könnten. Häufig sind sie an die Ergotherapeuten angebunden, also in dem Team, das für die Alltagsgestaltung zuständig ist. Sie machen Gruppenangebote oder Spaziergänge und führen Einzelgespräche."

Nina Wittwer
…die Qualifizierungskurse:
"Unsere Kurse laufen im Blockunterricht, jeweils vier Tage am Stück, mit acht Blöcken pro Jahr, zwei Jahre lang. Zugänge erfolgen das ganze Jahr über. Nach zwei Jahren hat man alle Inhalte mitbekommen. Die TeilnehmerInnen haben Anspruch auf Berufsschulunterricht. Die Berufsschule hat für sie eine eigene Alltagshelferklasse eingerichtet. Die besteht aus sechs SchülerInnen, daher müssen es sechs Personen pro Kurs sein. In der Schule sind die TeilnehmerInnen einen Tag pro Woche, jeweils freitags. Wir stimmen uns eng mit den Berufsschulen ab, damit sich die Inhalte nicht wiederholen. Dafür gibt es feste Pläne. Die übrige Zeit sind sie in den Betrieben, wo sie von unseren Inklusionsbegleiterinnen unterstützt werden."

…deren Inhalte:
"In der Qualifizierung geht es um Berufskunde, Gesundheits- und Arbeitsschutz, Hygiene, Krankheitsbilder, soziale und kommunikative Fähigkeiten, Unterstützung bei der Tagesgestaltung sowie bei hauswirtschaftlichen Tätigkeiten und im Bereich Wäsche. Wobei in den meisten Einrichtungen die Wäsche oder zumindest das Mangeln heute ausgelagert sind. Im Mittelpunkt stehen soziale und kommunikative Fähigkeiten sowie die Tagesgestaltung. Was biete ich an? Wie leite ich an? Was muss ich wissen? Wie viele Leute traue ich mir zu? Wie hole ich die Menschen ab? Wie beende ich eine Gruppe? Was muss ich organisieren? Viele kleine Schritte, die man lernen muss. Wir verwenden Rollenspiele und praktische Übungen: Gruppen anleiten, Rollstuhltraining usw.
Wichtig ist auch das Thema Trauer, Tod und Sterben. Wie kann ich gut für mich selbst sorgen? Mit wem kann ich sprechen, wenn es mir nicht gut geht? Überhaupt: Was mache ich, wenn etwas Kritisches bei der Arbeit passiert? Zur Kommunikation gehört auch die Vermittlung sozialer Kompetenzen. Was ist, wenn ein Konflikt auftritt? Wie verhalte ich mich? Wie lassen sie sich lösen? Jeder Block hat seine eigenen Themen. Und weil manche Themen belastend sind, speziell Sterben und Trauer, kombinieren wir immer zwei Themen miteinander.
Wir starten immer mit einer Austauschrunde. Krisen haben Vorrang. Nicht nur die im Job, sondern auch privat. Wir schauen gemeinsam: Was ist wichtig, damit ich arbeitsfähig bleibe? Will ich das hier besprechen? Die Berufsschule gestaltet den Einstieg ähnlich. Wir arbeiten auf derselben Ebene, mit derselben Absicht, aber in zwei unterschiedlichen Settings."
…den Zugang zur Qualifizierung:
"Manche Interessenten kommen mit dem festen Wunsch zu uns, in die Altenpflege zu gehen. Manche haben Praktika gemacht. Die absolvieren im Berufsbildungsbereich zunächst ein Eingangsverfahren. Das ist aber schon auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten. Auch die Rehaberater bei der Agentur für Arbeit kennen uns. Wir machen Werbung an den Schulen und bitte die FABs im BBB, darauf zu achten, ob jemand gut mit Menschen kommunizieren und andere unterstützen kann. Auch die Inklusionsbegleiter Innen sind eng vernetzt und können uns geeignete Personen vorschlagen. Es kommen auch Menschen aus dem Arbeitsbereich, etwa Quereinsteiger mit Vorerfahrung in der Altenpflege.
Formale Voraussetzungen gibt es wenig. Es zeigt sich schnell, ob jemand für diese Tätigkeit geeignet ist. Lange war es ein Thema, ob Rollstuhlfahrer in Senioreneinrichtungen arbeiten können. Allmählich finden wir da auch passende Einrichtungen. Eine größere Hürde ist das Angewiesensein auf einen Fahrdienst. Alltagshelfer müssen Selbstfahrer sein. Das konnten wir bisher leider nicht lösen. Aus meiner Erfahrung kann ich zudem sagen: Eine psychische Erkrankung macht es oft schwieriger, in diesem Bereich zu arbeiten. Das Nähe-Distanz-Verhältnis ist herausfordernd. Viele nehmen Dinge emotional mit nach Hause. Da schauen wir sehr genau hin, das müssen wir sehr eng begleiten."
…das Zertifikat:
"Die Alltagshelfer werden von der Sozialbehörde auf der Grundlage des § 69 Berufsbildungsgesetzes zertifiziert. Der regelt Qualifizierungsbausteine im Rahmen der Berufsausbildungsvorbereitung. Man bricht Teile aus der Ausbildungsordnung herunter für Menschen mit kognitiven Einschränkungen. Der Grundgedanke ist, dass die Qualifizierung für jeden zugänglich sein soll und jeder die Chance auf Bildung hat. Jeder Baustein hat ein eigenes Zertifikat. Ich kann einen Block wie Arbeitssicherheit oder Berufskunde erfolgreich abschließen und erhalte dafür den Leistungsnachweis und für andere Blöcke eine Teilnahmebescheinigung. Die Sozialbehörde stellt das Zertifikat offiziell aus, nach Einschätzung der Berufsschule, des Arbeitgebers, der Inklusionsbegleiter und von uns, den Lehrkräften. Es wird nicht überprüft, das läuft auf Vertrauensbasis. Unsere Bewertungen sind aber sehr differenziert.
Es gibt noch keine Anrechnung der zertifizierten Qualifikationen auf eine spätere Berufsausbildung. Die Betriebe wissen das auch, da muss man ehrlich sein. Eine Teilqualifizierung wäre ein möglicher Zwischenschritt, aber so weit sind wir noch nicht. Trotzdem ist es ein Unterschied in der Qualität der Arbeit, wenn die Menschen die Qualifizierung durchlaufen haben. Das wird von den Betrieben auch anerkannt. Im Moment ist ohnehin Fachkräftemangel, Alltagshelfer werden gerne genommen."

…die Suche nach dem Qualifizierungsbetrieb:
„Für viele ist die Wohnortnähe ein Kriterium. Es kann auch sein, dass jemand sagt: Ich möchte gerne in einer Demenz-WG arbeiten oder in einer Tagesklinik, wo die Leute nur tagsüber sind. In einer großen und kleineren Einrichtung. Was passt zu der Person? Wo ist etwas frei? Die Suche kann sich hinziehen, aber der Arbeitsplatz ist wichtig. Die Akquise übernehmen die Inklusionsbegleiter. Sie sagen, es ist eigentlich kein großes Problem, einen geeigneten Betrieb zu finden. Die größte Hürde ist die Finanzierung. Im Berufsbildungsbereich müssen die Betriebe noch nichts zahlen, das ändert sich beim Übergang in den Arbeitsbereich. Die Höhe wird individuell ausgehandelt.
Es gibt Betriebe, die schon Erfahrung mit Alltagshelfern haben, zum Beispiel aus einem vorherigen Betrieb. Und es ist natürlich auch eine Haltungsfrage: Wollen wir Menschen mit Beeinträchtigungen eine Chance geben? Glauben wir, dass das eine Bereicherung für alle ist? Dann spielt die innerbetriebliche Kommunikation eine große Rolle. Die Leitung begleitet den Alltagshelfer ja nicht vor Ort. Es kann passieren, dass das Team sagt: Wir wollen das nicht, weil wir hier ohnehin schon so belastet sind. Auch die Einrichtung selbst kann sich während der Qualifizierung verändern, etwa bei Krisen oder Wechsel im Team oder in der Leitung, so dass wir neu akquirieren müssen."

…Vorbehalte und die Bereitschaft, Beschäftigte gehen zu lassen:
"Die Offenheit in der Gesellschaft gegenüber Menschen mit Behinderungen ist deutlich gewachsen. Menschen mit Behinderungen sind in der Öffentlichkeit heute viel präsenter als vor 20 Jahren. Natürlich gibt es immer noch Grenzen und auch Diskriminierungen, aber sie werden weniger. Auch die Bewohner in den Senioreneinrichtungen sind manchmal gegenüber unseren Alltagshelfern skeptisch. Aber das ist eine Grundfrustration, die in solchen Einrichtungen zum Alltag gehört. Ältere Menschen sind nicht immer glücklich, dort leben zu müssen. Vereinzelt gab es auch Diskriminierung, zum Beispiel gegenüber einer jungen Frau im Rollstuhl, die von einer Seniorin angefeindet wurde. Aber das sind Ausnahmen. Grundsätzlich ist die Kombination aus alten Menschen und Menschen mit Lernbeeinträchtigungen eine tolle Sache. Es ist bereichernd für beide Seiten, beide profitieren davon.
Auch die Offenheit in der Werkstatt für ausgelagerte Arbeitsplätze hat sich im Laufe der Jahre verändert. Das Paradigma Werkstatt ist ja im Wandel. Ich glaube, es ist für die nächste Generation der FABs noch selbstverständlicher. Es geht aber auch um den wirtschaftlichen Erfolg und dabei gerät die pädagogische Arbeit gelegentlich ins Hintertreffen. Ich bin Ergotherapeutin, für mich steht natürlich die Person im Mittelpunkt. So sollte es eigentlich immer sein.
Die Widerstände haben, wie ich glaube, oft auch mit der Wertschätzung der eigenen Arbeit zu tun. Die Arbeit der Werkstatt wird häufig nicht ausreichend anerkannt – insbesondere die Arbeit im Berufsbildungsbereich. Dabei passieren dort so viele kleine, wichtige Schritte. Das ist die Vorbereitung auf das, was politisch gewollt ist: der Übergang in den allgemeinen Arbeitsmarkt. Sie muss ernst genommen und wertgeschätzt werden. Da findet viel wichtige Arbeit statt. Ich glaube aber, die Werkstatt muss es weiterhin geben, als Rückzugsort für diejenigen, für die ein Betrieb überfordernd wäre. In welchem Umfang, das muss man sehen."
…die Bedeutung des Arbeitsplatzes für die Alltagshelfer:
"Für die Alltagshelfer hat es einen hohen Stellenwert, ausgelagert zu arbeiten. Sie sagen: Ich arbeite eben nicht bei den Elbe-Werkstätten, ich arbeite in der Senioreneinrichtung Rosenburg. Das macht für die Personen einen großen Unterschied. Deshalb ist es so wichtig, dass es diese Möglichkeit gibt und dass wir für sie einen passenden Arbeitsplatz finden. Die zwei Jahre Qualifizierungszeit, noch einmal in der Gruppe etwas Neues lernen, das gibt zusätzliche Sicherheit. Auch das bewirkt viel bei den Teilnehmenden. Wir erleben bei vielen eine starke Verselbstständigung. Menschen, die vorher schüchtern waren und kaum in Kontakt gehen konnten, gehen plötzlich aus sich heraus, leiten selbstständig eine Gruppe in der Einrichtung an. Da ist das Selbstwertgefühl enorm gestiegen.
Die meisten sind in ihrer Einrichtung sehr geschätzt und anerkannt und bekommen sehr positive Rückmeldungen. Und wenn sich das dann auch noch in einem Zertifikat oder in einem Zeugnis für den Arbeitsplatzwechsel niederschlägt, dann bewirkt das noch einmal sehr viel."

Fachtagung bei 53° NORD zu dem Thema…
Wer sich intensiver mit dem Thema Alltagshelfer und auch mit der Tätigkeit von Werkstattbeschäftigten in Kindergärten beschäftigen will, findet dazu im Programm von 53° NORD eine Fachtagung. Sie findet am Oktober in Kassel statt und trägt den Titel: "Berufswunsch Arbeit mit Kindern und Senioren - Chancen, Tätigkeiten, Qualifizierungsgänge". Als Referenten sind Sven Neumann von den Elbe-Werkstätten in Hamburg, Kuno Eichner von integra MENSCH in Bamberg und Michael Schumann von der Lebenshilfe Braunschweig eingeladen. Sie berichten sowohl von der Tätigkeit der Beschäftigten, den Chancen und Schwierigkeiten dieser betriebsintegrierten Arbeitsfelder und auch von ihren unterschiedlichen Qualifizierungsgängen. Für alle, die solche Arbeitsmöglichkeiten in ihr Werkstattangebot integrieren wollen, ist diese Fachtagung eine gute Gelegenheit zur Information und zum Austausch.
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