Artikel

Ein Werkstattrat bezieht Stellung

Die Selbstvertreter*innen der Aichacher Ulrichswerkstätte zur NDR-Reportage "Job trotz Handicap - Menschen mit Behinderung suchen Arbeit"

Bild Ein Werkstattrat bezieht Stellung

 23. Februar 2022 |  Werkstattrat und Frauenbeauftragte der Aichacher Ulrichswerkstätte | Textbeitrag

  Haltung, Wahlfreiheit und Selbsbestimmung, Kostenfreie Artikel, Gastbeitrag

Eine Reportage des NDR machte Ende Januar in der Werkstattlandschaft Furore. Unter dem Titel "Ein Job trotz Handycap – behinderte Menschen suchen Arbeit" beschäftigten sich die Autor*innen mit der Vermittlung von Werkstattbeschäftigten auf den Arbeitsmarkt und zeichneten ein wenig schmeichelhaftes Bild der Werkstattlandschaft. Werkstattrat und Frauenbeauftrage der Ulrichswerkstätten im bayerischen Aichach wollten das nicht so stehen lassen und schickten eine engagierte Stellungnahme zu dieser Sendung an die NDR-Redaktion.

Wir finden...

Es ist schade, dass die Dokumentation das Thema Werkstätten für Menschen mit Behinderung unseres Erachtens nur sehr einseitig und oberflächlich belichtet. Sie zeigen Menschen mit Behinderung, deren Bedürfnisse speziell sind, aber sie zeigen nicht einen Gesamtüberblick über den Personenkreis, der in den Werkstätten arbeitet. Uns missfällt auch, dass sie Werkstätten als mindere Arbeitsplätze darstellen, die ausgrenzen statt integrieren.

Aber: Die meisten unserer Kollegen wollen nicht mit Unterstützung an einem Pseudo-Arbeitsplatz auf dem 1. Arbeitsmarkt arbeiten, sondern selbständige Arbeit leisten, die an unseren Arbeitsplätzen möglich ist. Aus unserer Sicht leisten wir an unseren Arbeitsplätzen einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag. Wir beliefern regionale Firmen mit unseren Arbeitsprodukten. Qualitätsarbeit ist für uns kein Marketing-Gag, sondern eine Selbstverständlichkeit. In der WfbM haben wir Arbeitsplätze, an denen wir weitgehend selbständig arbeiten können und unseren Arbeitsalltag als vollwertige Mitarbeiter erleben. Wir schätzen aber auch die Unterstützung, die uns zur Verfügung steht, wenn und soweit sie notwendig ist.

Deshalb ganz klar: Wir sind froh, dass es Werkstätten für Menschen mit Behinderung gibt, da der 1. Arbeitsmarkt nicht für alle der richtige Platz ist! Die EU-Parlamentarierin Frau Langensiepen verweist immer wieder auf andere Länder, zum Beispiel Großbritannien. Dort sind alle Werkstätten geschlossen worden, weil die Menschen auf dem 1. Arbeitsmarkt arbeiten sollten. Mittlerweile überwiegt dort der Anteil an arbeitslos zu Hause sitzenden Menschen mit Behinderung. Ist das Teilhabe an der Gesellschaft? Zu diesem Thema kann man auch auf YouTube betroffene Menschen mit Behinderung hören, die den Politikern vorwerfen, sie mit dieser Politik arbeitslos und an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu haben.

Sie zeigen in ihrem Bericht eine Rollstuhlfahrerin mit einem sehr hohen Unterstützungsbedarf. Offensichtlich ist sie körperlich so eingeschränkt, dass sie auch in der Werkstätte nicht Vollzeit arbeiten kann. Warum macht sie niemand auf die Realität aufmerksam? Selbst wenn sie auf dem 1. Arbeitsmarkt eine Stelle bekäme, wäre die sicher nicht so bezahlt, dass sie sich komplett selbst finanzieren könnte! Jeder andere Arbeitnehmer, der einem einfachen Beruf auf dem 1. Arbeitsmarkt nachgeht, hat Schwierigkeiten, mit einer Halbtagsstelle seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Abgesehen davon werden viele Büroarbeiten mit leichteren Anforderungen mittlerweile digital erledigt.

Wir finden, die Realität wird in diesen Berichten und Anforderungen leider selten berücksichtigt. Viele Firmen, aber auch Behörden, sind nicht interessiert daran, Menschen mit einer Schwerbehinderung aufzunehmen. Mit Zwang wird dies sicher nicht respektvoll und wertschätzend in den Firmen umgesetzt werden! Auch Menschen mit Behinderung wollen ein Arbeitsklima, in dem sie sich wohlfühlen und wertgeschätzt fühlen! Wir arbeiten in der Werkstätte auf Augenhöhe mit Kollegen und fühlen uns in unserer Arbeitsleistung wertgeschätzt.

Arbeiten in einer WfbM - der Weg in eine Sackgasse?

So sehen es die sozial- und integrationspolitische Sprecherin der Grünen im Landtag Frau Kerstin Celina, die EU-Parlamentarierin Langensiepen oder auch Raul Kauthausen. Unseres Erachtens verlieren diese Politiker aber die Bedürfnisse von Menschen mit einer kognitiven oder psychischen Beeinträchtigung aus den Augen. Sie selbst agieren aus dem Blickwinkel eines Menschen mit einer körperlichen Behinderung und Studium.

Wir sehen das nicht so. Wer von uns Interesse bekundet, hat die Möglichkeit auf einem Außenarbeitsplatz in einer Firma des ersten Arbeitsmarkts in Voll- oder Teilzeit zu arbeiten. Jede gute Werkstätte hat Jobcoachs, aber auch Gruppenleiter, die ihre Gruppenmitglieder fördern. Manche unserer Kolleginnen oder Kollegen sind durch einen Außenarbeitsplatz in eine Anstellung auf dem 1. Arbeitsmarkt übernommen worden.

Aber: Nicht verschweigen wollen wir aber auch, dass viele unserer Kollegen und Kolleginnen nach Misserfolgen und Mobbing vom 1. Arbeitsmarkt zu uns gekommen sind und sich hier wieder psychisch stabilisieren konnten. Diese Menschen sind meist froh, dass sie in der WfbM einen Arbeitsplatz haben, der sie und ihre Bedürfnisse ernst nimmt. Es wäre richtig, auch diese Problematik aufzuzeigen.

Thema Ausgrenzung

Soziale Kontakte unter Kollegen und Kolleginnen sind bei uns genauso üblich, wie in jeder anderen Firma. Wir nehmen teil am öffentlichen Leben in unserer Stadt und den Gemeinden, in denen wir leben. Wir fühlen uns nicht isoliert, wir fühlen uns als Teil der Gesellschaft. Leider ist es allerdings so, dass wir offensichtlich nicht von allen Politikern als adäquate Gesprächspartner wahrgenommen werden.

Wir haben Frau Langensiepen schon mehrmals angeschrieben, ihr unsere Sichtweise zum Thema Werkstätte für Menschen mit Behinderung erklärt und sie um die Beantwortung verschiedener Fragen gebeten. Leider haben wir bis heute noch keine Antwort von ihr oder ihren Kollegen/Kolleginnen erhalten. Auch die Frage, wie viele Menschen mit einer kognitiven oder psychischen Behinderung im Europäischen Parlament einen Arbeitsplatz haben, wurde uns nicht beantwortet.

Es muss weiterhin eine Wahlfreiheit bestehen bleiben!

Keiner von uns wurde gezwungen in einer WfbM zu arbeiten. Die meisten von uns gehen mit Freude und Engagement an ihren Arbeitsplatz. Wir arbeiten auf Augenhöhe mit unseren Kollegen und wir schätzen es, freundschaftliche Kontakte pflegen zu können. Viele unserer Kollegen treffen sich morgens schon lange vor Arbeitsbeginn an der Werkstätte. Viele von uns wohnen selbstständig oder in Wohngemeinschaften. Wir sind in das öffentliche Leben unseres Wohnorts und darüber hinaus integriert. Auch an Sportveranstaltungen nehmen viele unserer Kollegen gerne teil.

Frauenbeauftragte und Werkstatträte sind gewählte Vertreter der Mitarbeiter einer Werkstätte für Menschen mit Behinderung. Sie haben ähnliche Aufgaben wie ein Betriebsrat. Unsere Arbeit als Werkstattrat oder Frauenbeauftragte wird von unseren Vorgesetzten respektiert. Wir haben regelmäßige Konferenzen mit dem Sozialdienst, dem Einrichtungsleiter, der Geschäftsführung. Wir werden zu Fragen der Weiterentwicklung, der Teilhabe, jetzt zu Corona- Strategien gehört. Unsere gesetzlich verankerten Rechte zur Mitwirkung und Mitbestimmung werden auch von den Vorgesetzten ernst genommen. Die negativen Erfahrungen, die sie bei Gesprächen mit WfbM -Beschäftigten und deren Vorgesetzten gemacht haben, sind vielleicht in einer schlecht geführten Werkstätte begründet? Eine gut geführte WfbM wird immer Teilhabe bedenken.

Dem Kritiker der Werkstätten, Herrn Ulrich Scheibner, möchten wir gerne die Frage stellen, warum er nicht während der Ausübung seiner Tätigkeit als Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft der WfbM, seine Forderung, mindestens 50 % Arbeitsplätze auf dem 1. Arbeitsmarkt, selber umgesetzt hat? Kritisieren ist immer leichter als selber machen!

Auch wir sind nicht immer mit allem, was in der Werkstätte gemacht und gefordert wird, einverstanden. Es gibt Dinge und Abläufe, die verbessert werden müssen. Aber sagen sie uns: Sind alle Arbeitnehmer auf dem 1. Arbeitsmarkt mit ihrem Arbeitsplatz zufrieden? Deshalb möchten wir aufmerksam machen: Wichtig ist für uns die Wahlfreiheit! Werkstätten schlecht zu reden oder abzuschaffen, ist auch Bevormundung!

Die Verfasser der Stellungnahme

Werkstattrat Aichach

Michael Ruzicka, Vorsitzender, Schreiner mit Zusatzausbildungen in WfbM
Benjamin Mutzbauer, Schriftführer, Konstruktionstechniker, Lagerist in WfbM und Teilzeit-Außenarbeitsplatz
Gerald Fahrbach, stellv. Schriftführer, Metallbauer, Vom 1. Arbeitsmarkt in die Schlosserei und Montage/Verpackung der WfbM

Frauenbeauftragte Aichach

Claudia Herrmann, Frauenbeauftragte, Montage/Verpackung WfbM
Sabine Stöckelhuber, stellv. Frauenbeauftragte, Montage/Verpackung WfbM

Zurück zur Artikelübersicht

Bleiben Sie informiert

Abonnieren Sie jetzt unseren Newsletter und bleiben Sie auf dem neusten Stand

53° NORD wird gefördert durch:

 

Logo Evangelische BankLogo Evangelische Bank

 

Logo Rethink Robotics