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Einschneidende Vorschläge zum Umbau des Werkstättenrechts

Kommentar zum 53° NORD-Interview mit dem Sozialdezernenten des LWL, Johannes Chudziak

Nicht jeder unserer Leser wird die Ideen von Johannes Chudziak, dem neuen Sozialdezernenten des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe, zur Weiterentwicklung der beruflichen Teilhabe begrüßen (lesen Sie hier das komplette Interview). Sie sind einschneidend, wirken aber zeitgemäß. Tenor: Grundlegende Reform des Werkstattsystems, Ernst machen mit dem Abbau von Sonderstrukturen, Realisierung eines inklusiven Arbeitsmarkts. Konkret heißt das für Chudziak: Werkstätten beschränken sich auf ihren Reha-Auftrag. Sie sind nicht mehr wirtschaftlich tätig, müssen aber auch nicht mehr die Werkstattentgelte erwirtschaften. Diese speisen sich, so der Vorschlag, aus der Zusammenlegung aller Leistungen, die zum Lebensunterhalt der Werkstattbeschäftigten aufgewendet werden. Sie werden als existenzsicherndes Entgelt ausgezahlt. Um den Übergang in den Arbeitsmarkt attraktiv zu halten, entfällt die Möglichkeit, nach 20 Jahren eine EU-Rente zu beziehen.

    Ein weiterer zentraler Baustein des Umbaus: Die Herauslösung des Berufsbildungsbereichs aus der WfbM. Er wird zu einer Orientierungs- und Erprobungsmöglichkeit für die Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt. Nur dann, wenn sich dies als nicht realisierbar herausstellt, wird »als letzte Lösung« die Werkstattleistung bewilligt. Alle zwei Jahre wird diese Entscheidung überprüft, das Ziel bleibt der Arbeitsmarkt. Ein weiteres Element: Werkstätten wandeln ihre marktfähigen Arbeitsfelder in Inklusionsunternehmen um, die weiterhin die Räume und Produktionskapazitäten der WfbM nutzen können. Die Beschäftigten werden tariflich entlohnt, sie erhalten einen Arbeitsvertrag und verfügen über die üblichen Arbeitnehmerrechte. In der Werkstatt gilt weiterhin das »arbeitnehmerähnliche Rechtsverhältnis«. Das Zugangskriterium zur WfbM, die »volle Erwerbsminderung aufgrund der besonderen Schwere der Behinderung«, wird durch die Feststellung des erforderlichen Unterstützungsbedarfs ersetzt. Auch dieser wird regelmäßig überprüft. Ein Belohnungssystem für Vermittlungen soll das Interesse der Werkstätten an Übergängen erhöhen.

    Bei den Überlegungen von Johannes Chudziak handelt es sind nicht um eine Einzelmeinung. Sie stellen, wenn vielleicht auch nicht in allen Details, die Position der BAG der überörtlichen Sozialhilfeträger dar. Die Vorschläge beinhalten ein neues Gesamtkonzept zur beruflichen Teilhabe und sollen den häufig verengten Blick der aktuellen Mindestlohndebatte weiten. Die Kostenträger befürchten, dass eine Besserstellungen der Werkstattbeschäftigten ohne strukturelle Änderungen die Sogwirkung in die Werkstatt beschleunigt.

    Schaut man sich die Vorschläge genauer an, wirken sie weniger radikal als dies auf den ersten Blick erscheinen mag. Schon lange gibt es die Forderung, die Unterstützungsleistungen an die Person und nicht an die Institution zu knüpfen. Die Leistung bliebe dieselbe, egal ob jemand in der WfbM, in einer Inklusionsfirma oder auf dem Arbeitsmarkt tätig wäre. Mit einer solchen Regelung könnten Personen mit höherem Unterstützungsbedarf leichter in Integrationsbetrieben beschäftigt werden, denn die bewilligte Unterstützungssumme deckte auch einen höheren Anleitungs- und Betreuungsbedarf ab. Das Budget für Arbeit gliche die Minderleistung aus und ermöglichte eine tarifliche Entlohnung.

    In Frankreich gibt es übrigens diese zwei Arten von Werkstätten seit Langem: In den Enterprises Adaptées arbeiten Menschen mit einer Leistungsfähigkeit von über 30% mit einem Arbeitsvertrag und zu Tariflöhnen. Die Travail Protegée bzw. ESAT beschäftigen Personen bei einer Leistungsfähigkeit von unter 30%. Auch bei uns hat schon 2010 der damalige Vorsitzende der LAG WfbM Niedersachsen, Detlef Springmann, vorgeschlagen, das deutsche Werkstättensystem in zwei Maßnahmeformen aufzuteilen: In einen »Arbeitsförderungsbereich«, in dem Rehabilitationsleistungen erbracht werden, und in einen »Produktionsbereich« mit Arbeitnehmerrechten und Lohnzahlungen in Höhe des Mindestlohns (die Vorschläge von D. Springmann können Sie hier nachlesen).

    Zwei Anmerkungen soll es hier allerdings zu den Ausführungen des LWL-Sozialdezernenten geben:

    1. Beim Verzicht auf den Wirtschaftlichkeitsgedanken ist zu befürchten, dass die als Reha-Werkstatt konzipierte WfbM zu einer Mischung aus Langzeit-BBB und tagesstrukturierender Maßnahme wird und ihre Arbeitsmarktnähe verliert. Die dort Beschäftigten würden ihre Tätigkeit nicht mehr als echte Teilhabe am Arbeitsleben erleben. Auch das angestrebte Rehabilitationsziel, der Übergang in den Arbeitsmarkt, wäre schwerer zu erreichen. Je arbeitsmarktnäher die ausgeübten Tätigkeiten sind, desto höher stehen die Chancen auf eine Vermittlung. Auch eine neu strukturierte Werkstatt sollte deshalb ihre marktbezogene Produktion und Beschäftigung nicht aufgeben müssen.
    2. Für einen verbesserten Zugang zum Arbeitsmarkt braucht es Akteure, die diese Aufgabe in die Hand nehmen. Spätestens seit der schleppenden Inanspruchnahme des Budgets für Arbeit ist klar, dass der Gesetzgeber es versäumt hat, solche Akteure festzulegen und sie ausreichend finanziell auszustatten. Dabei gibt es Beispiele für erstaunliche Vermittlungserfolge spezialisierter Dienste. Der Fachdienst Access - Inklusion im Arbeitsleben in Erlangen und Nürnberg hat in den 25 Jahren seines Bestehens über 1.000 Personen sozialversicherungspflichtig vermittelt, die Vermittlungsquote liegt bei über 60 Prozent (zum Artikel »Deutschland braucht Access«). Bis heute hat der Dienst keine stabile Finanzierungsbasis. Dabei erfüllt er die Forderungen der UN-BRK, deshalb müssten seine Leistungen eine gesetzliche Grundlage bekommen und analog zur Werkstattleistung finanziert werden. Für ein grundlegendes Umsteuern in der beruflichen Teilhabe, wie Johannes Chudziak es vorschlägt, bedarf es flächendeckend solcher Anlaufstellen und Dienste, die mit der leistungsberechtigten Person ihre Wünsche und Fähigkeiten erarbeiten, Praktikumsplätze akquirieren, Aufgaben im Betrieb auf sie zuschneiden, sie in ihre Tätigkeit einarbeiten und ihnen langfristig zur Verfügung stehen.

    Die Ideen des LWL und der BAGüS zu einer Reform der Eingliederungshilfe und zur künftigen Positionierung der Werkstätten werden nicht unwidersprochen bleiben. Aber sie verdienen es, geprüft zu werden. Sie orientieren sich an der Richtschnur der UN-BRK, ermöglichen den Fortbestand der WfbM und zeigen einen Weg auf, schon bestehende Arbeitsangebote zu transformieren. Die aktuelle Diskussion über die Weiterentwicklung unseres Hilfesystems braucht solche konkreten Vorschläge.

     

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