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Gewaltschutz in Werkstätten: Von der Papierpflicht zur gelebten Praxis

Ein Gastbeitrag von „Starke Frauen machen“

Bild Gewaltschutz in Werkstätten: Von der Papierpflicht zur gelebten Praxis

 17. November 2025 |  Nicole Burek | Textbeitrag

  Kostenfreie Artikel, Gastbeitrag

Über 130.000 Frauen mit den unterschiedlichsten Beeinträchtigungen arbeiten in Werkstätten für behinderte Menschen in Deutschland. Sie erleben verschiedenartige Formen von Gewalt zwei- bis dreimal häufiger als Frauen ohne Beeinträchtigung. Die Datenlage ist eindeutig, die rechtlichen Grundlagen sind geschaffen – doch zwischen gesetzlichem Anspruch und gelebter Praxis klafft eine große Lücke.

Frauenbeauftragte als Schlüssel zum Gewaltschutz

Um diese Lücke zu schließen, braucht es Menschen, die den Gewaltschutz in der Praxis umsetzen. Seit 1. Januar 2017 müssen in jeder Werkstatt Frauenbeauftragte und Stellvertreterinnen gewählt werden. Heute sind es bundesweit etwa 1.500 Personen, die sich für Gleichstellung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf und Gewaltschutz einsetzen.

Frauenbeauftragte arbeiten "auf Augenhöhe" – Frauen mit Beeinträchtigungen unterstützen Frauen mit Beeinträchtigungen. Dieser Ansatz ermöglicht es, Erfahrungen aus der eigenen Lebenswelt zu nutzen, um andere Frauen zu schützen und zu stärken. Die Arbeit umfasst Beratung in Gewaltsituationen, Präventionsarbeit und die Vernetzung mit externen Fachstellen.

Seit September 2019 arbeiten Frauenbeauftragte im Bundesnetzwerk zusammen, das seit Februar 2023 als eigenständiger Verein "Bundes-Netzwerk der Frauen-Beauftragten in Einrichtungen – Starke.Frauen.Machen. e.V." organisiert ist. Der regionale und bundesweite Austausch von Erfahrungen haben die Frauenbeauftragten in ihrer Arbeit deutlich gestärkt. Frauen vernetzen sich, tauschen Erfahrungen aus, stärken sich gegenseitig und entwickeln gemeinsam Strategien, denn: Gemeinsam sind wir stärker und lauter und können mehr erreichen.

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Nicole Burek, Vorstandsvorsitzende vom Bundes-Netzwerk der Frauen-Beauftragten in Einrichtungen Starke.Frauen.Machen. e.V.
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Herausforderungen in der Praxis

Trotz ihrer wichtigen Rolle stehen Frauenbeauftragte vor strukturellen Herausforderungen. Frauenbeauftragte haben aktuell ein Recht auf 20 Schulungstage in der ersten Amtszeit und 15 Schulungstage für jede weitere Amtszeit, auf Unterstützung durch Vertrauenspersonen und auf Büroräume. In der Praxis werden diese Rechte nicht immer umgesetzt. Hinzu kommt, dass Frauenbeauftragte keine Mitbestimmungsrechte wie Werkstatträte haben. Sie sind die Interessenvertreterinnen für Frauen mit Beeinträchtigungen in den Einrichtungen.

Wie dringend notwendig Verbesserungen der Arbeitsbedingungen sind, zeigt eine bundesweite Studie, die das Bundes-Netzwerk der Frauen-Beauftragten in Einrichtungen – Starke.Frauen.Machen. e.V. 2023/2024 gemeinsam mit der HAWK Hochschule Holzminden unter Leitung von Prof. Dr. Viviane Schachler durchgeführt hat. Mit 392 ausgefüllten Fragebögen von 731 angeschriebenen Werkstätten – eine Rücklaufquote von 53 Prozent – liegen erstmals verlässliche Daten zu den Arbeitsbedingungen vor. Die Ergebnisse zeigen deutlichen Handlungsbedarf: Jede fünfte Frauenbeauftragte hat keine Stellvertreterin, obwohl gesetzlich vorgeschrieben. Die vorgesehenen monatlichen Treffen mit der Werkstattleitung finden nur in 44 Prozent der Werkstätten statt. Ein Viertel der Frauenbeauftragten fühlt sich durch die Arbeit belastet.Die Rahmenbedingungen erschweren dies: 80 Prozent betreuen mehrere Standorte, Unterstützerinnen stehen in 47 Prozent der Fälle nur ein bis zwei Stunden pro Woche zur Verfügung. Die Einbindung in Gewaltschutzkonzepte lässt zu wünschen übrig: 30 Prozent kennen das Konzept ihrer Werkstatt nicht, nur 27 Prozent haben es mit erstellt.

Gewalt in Werkstätten: Die Datenlage

Diese Arbeitsbedingungen stehen im Kontext einer Situation, in der Gewalt in Werkstätten ein relevantes Problem darstellt. Die im Juli 2024 veröffentlichte IfeS-Studie im Auftrag von BMFSFJ und BMAS liefert erstmals belastbare Zahlen. Die Ergebnisse zeigen: 30 Prozent der Beschäftigten haben in den letzten drei Jahren physische Gewalt erlebt, 15 Prozent psychische Gewalt und 37 Prozent der Frauen sexuelle Belästigung. Über alle Gewaltformen hinweg sind Werkstattbeschäftigte deutlich häufiger betroffen als Beschäftigte in der allgemeinen Arbeitsbevölkerung.

Die IfeS-Grundlagenstudie von 2012 hatte bereits ein umfassendes Bild gezeichnet: Frauen mit Behinderung erleben in allen Gewaltformen häufiger Übergriffe als Frauen ohne Behinderung. Die Mehrheit hat körperliche Gewalt in ihrem Erwachsenenleben erlebt, verglichen mit etwa einem Drittel in der Allgemeinbevölkerung. Ein erheblicher Anteil – deutlich mehr als in der Gesamtbevölkerung – hat multiple Gewalterfahrungen über die gesamte Lebensspanne hinweg gemacht, die verschiedene Formen von Gewalt umfassen.

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Rechtliche Grundlagen für Gewaltschutz

Parallel zu diesen Herausforderungen wurden in den letzten Jahren rechtliche Grundlagen geschaffen. Seit Juni 2021 schreibt § 37a SGB IX vor, dass alle Leistungserbringer der Eingliederungshilfe Gewaltschutzkonzepte entwickeln müssen. Das Gewalthilfegesetz, in Kraft seit 28. Februar 2025, wird ab 2032 einen Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung bei häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt schaffen – mit 2,6 Milliarden Euro Bundesförderung bis 2036.

Die Istanbul-Konvention, seit Februar 2018 in Deutschland in Kraft, verpflichtet zu umfassendem Gewaltschutz und besonderer Aufmerksamkeit für vulnerable Gruppen. Die UN-Behindertenrechtskonvention Artikel 16 garantiert Schutz vor Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch. Die EU-Richtlinie 2024/1385, die bis Juni 2027 umgesetzt werden muss, schreibt erstmals EU-weit barrierefreie Unterstützungsdienste und behinderungssensible Ansätze vor.

Die Existenz von Gewaltschutzkonzepten allein reicht jedoch nicht aus. Der GREVIO-Bericht von 2022 zur Umsetzung der Istanbul-Konvention in Deutschland zeigt deutlich: Es fehlt an einem koordinierten nationalen Aktionsplan, an ausreichenden Schutzeinrichtungen, an barrierefreien Beratungsstellen. Nur 16 Prozent der Beratungsstellen sind barrierefrei zugänglich – das bedeutet: Die große Mehrheit der betroffenen Frauen mit Beeinträchtigungen kann Hilfe nicht erreichen, selbst wenn sie sie sucht.

Die UN-Prüfung der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention im August 2023 kam zu ähnlichen Schlüssen: Es gibt keine unabhängige Monitoring-Stelle für Gewaltschutz in Einrichtungen, wie in Artikel 16 vorgeschrieben. Der Zugang zur Justiz ist eingeschränkt. Für die etwa 300.000 Menschen in Werkstätten – davon über 130.000 Frauen – bestehen weiterhin erhebliche Herausforderungen beim Zugang zu wirksamen Schutzmaßnahmen.

Notwendige Verbesserungen

Das neue Fachkonzept der Bundesagentur für Arbeit für Eingangsverfahren und Berufsbildungsbereich (EV/BBB) zeigt, dass Bewegung in die Umsetzung kommt. Erstmals wird ein verbindliches Gewaltschutzkonzept für alle Leistungserbringenden vorgeschrieben – Werkstätten für behinderte Menschen, andere Leistungsanbieter und Tagesförderbereiche sind gleichermaßen verpflichtet. Grundlage ist § 37a SGB IX, der Schutzmaßnahmen vor körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt verbindlich vorgibt.

Die Konzepte müssen partizipativ mit den Teilnehmenden erarbeitet, in barrierefreier Form zugänglich gemacht und konsequent in den Alltag integriert werden. Einrichtungen sind gefordert, ihre bestehenden Ansätze zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Das ist ein wichtiger Schritt. Doch wirksamer Gewaltschutz in der Praxis benötigt darüber hinaus weitere konkrete Maßnahmen:

Echte Prävention: WenDo- und Selbstbehauptungskurse als Standard. Aufklärung über Rechte, Grenzen und Sexualität in verständlicher Sprache. Arbeit mit potenziellen Tätern.

Systematische externe Vernetzung: Werkstätten müssen mit Frauennotrufen, Fachberatungsstellen und spezialisierten Anwältinnen und Anwälten kooperieren. Diese Anlaufstellen müssen barrierefrei sein – physisch, kommunikativ und in der Haltung.

Unabhängige Beschwerdestellen: Wenn die Werkstatt Teil des Problems ist, brauchen Frauen externe Anlaufstellen. Artikel 16 der UN-BRK fordert unabhängiges Monitoring.

Ressourcen für Frauenbeauftragte: Garantierte Freistellung, professionelle Supervision, ausreichende Budgets und vor allem: Aktive Partizipation, Mitbestimmungsrechte,  bedarfsgerechte Unterstützung und partizipative Mitarbeit in alle Prozesse des Gewaltschutzkonzeptes.

Konsequenzen bei Verstößen: Regelmäßige externe Evaluierungen und entsprechende Konsequenzen für Einrichtungen, die ihren Schutzauftrag nicht erfüllen.

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Gemeinsam für gelebten Gewaltschutz

Um diese notwendigen Veränderungen aufzuzeigen und Praxiserfahrungen mit fachlicher Expertise zu verbinden, veranstalten wir am 25. November 2025, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, die Online-Fachtagung "Starke.Frauen.Machen. gegen Gewalt: Gewalt hat viele Gesichter - und keine Ausrede". Von 9:30 bis 14:30 Uhr bringen wir Frauenbeauftragte mit Expertinnen aus Politik und Praxis zusammen. Wir stellen den Wegweiser Gewaltschutz vor, informieren über Mindeststandards und geben Einblick in Hilfesysteme. Die Teilnahme ist kostenlos und barrierefrei.

Die Datenlage ist eindeutig. Die rechtlichen Grundlagen sind geschaffen. Jetzt geht es um die Umsetzung – mit politischem Willen, finanziellen Ressourcen und starker Vernetzung. Das Ziel: Eine Gesellschaft, in der Frauen mit Beeinträchtigungen sicher leben und arbeiten können. In der Gewalt nicht zum Normalzustand gehört. In der Schutz und Selbstbestimmung Rechte sind, keine Privilegien.

Nicole Burek ist Vorstandsvorsitzende vom Bundes-Netzwerk der Frauen-Beauftragten in Einrichtungen – Starke.Frauen.Machen. e.V. Informationen und Anmeldung zur Online-Fachtagung: starke-frauen-machen-gegen-gewalt.de

 


Quellen und Nachweise

[1] REHADAT-WfbM / Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen (BAG WfbM): Statistiken zu Werkstätten in Deutschland. https://www.rehadat-wfbm.de/ueberblick/akteure-in-der-wfbm/frauenbeauftragte/

[2] Werkstätten-Mitwirkungsverordnung (WMVO) und Frauenbeauftragte in Werkstätten. https://www.rehadat-wfbm.de/ueberblick/akteure-in-der-wfbm/frauenbeauftragte/

[3] HAWK Hochschule Holzminden / Starke.Frauen.Machen. e.V. (2024): Bundesweite Studie zu Arbeitsbedingungen von Frauenbeauftragten in Werkstätten. Umfrage zur Arbeit der Frauen-Beauftragten in Werkstätten - Bundes-Netzwerk der Frauen-Beauftragten in Einrichtungen

[4] BMFSFJ / BMAS (2024): Studie "Sexuelle Belästigung, Gewalt und Gewaltschutz in Werkstätten für behinderte Menschen" (IfeS-Studie 2024). https://www.bmas.de/DE/Service/Presse/Meldungen/2024/studie-zur-gewalt-in-einrichtungen-der-behindertenhilfe.html

[5] BMFSFJ (2012): Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland (IfeS-Grundlagenstudie). https://www.bmbfsfj.bund.de/resource/blob/94204/3bf4ebb02f108a31d5906d75dd9af8cf/lebenssituation-und-belastungen-von-frauen-mit-behinderungen-kurzfassung-data.pdf

[6] § 37a Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) – Gewaltschutz. https://www.aktiv-gegen-digitale-gewalt.de/de/broschueren-und-buecher.html

[7] BMFSFJ: Gewalthilfegesetz (in Kraft seit 28.02.2025). https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/gesetze/gesetz-fuer-ein-verlaessliches-hilfesystem-bei-geschlechtsspezifischer-und-haeuslicher-gewalt-251160

[8] Europarat: Istanbul-Konvention. https://www.edf-feph.org/the-istanbul-convention/

[9] UN-Behindertenrechtskonvention, Artikel 16. https://www.un.org/development/desa/disabilities/convention-on-the-rights-of-persons-with-disabilities/article-16-freedom-from-exploitation-violence-and-abuse.html

[10] EU-Richtlinie 2024/1385 zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. https://www.eeagender.org/the-synergy-network/news/new-eu-law-to-combat-gender-based-violence/

[11] Europarat / GREVIO (2022): Evaluierungsbericht zur Umsetzung der Istanbul-Konvention in Deutschland. https://www.coe.int/en/web/portal/-/germany-council-of-europe-experts-find-serious-gaps-in-protecting-women-and-girls-from-gender-based-violence

[12] UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (August 2023): Prüfung der Umsetzung der UN-BRK in Deutschland. https://www.ohchr.org/en/meeting-summaries/2023/08/experts-committee-rights-persons-disabilities-welcome-germanys-increase

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