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Stille Revolution in der WfbM: Wenn Werkstattbeschäftigte ihre Arbeitsaufträge selbst steuern

53° NORD-Sozialdiensttagung zeigt ungeahnte Entwicklungspotentiale

Bild Stille Revolution in der WfbM: Wenn Werkstattbeschäftigte ihre Arbeitsaufträge selbst steuern

 04. Juli 2023 |  Dieter Basener | Textbeitrag

  Haltung, Wahlfreiheit und Selbsbestimmung, Weiterentwicklung der beruflichen Teilhabe, Werkstätten, Produktion, Veranstaltungsrückblick

Daniel Barthen sieht seinen Werkstattarbeitsplatz seit Kurzem mit anderen Augen. »In der Werkstatt zu arbeiten hieß früher für mich, dass ich zu nichts anderem in der Lage bin. Andere trauten mir nichts zu und ich selbst traute mir nichts zu. Das hat sich grundlegend geändert. Mein negatives Werkstatt-Feeling ist weg, mein Selbstvertrauen ist gewachsen und ich führe ein anderes Leben. Gemeinsam mit meinen Teamkollegen mache ich mein eigenes Ding. Ich bin zwar weiter in der Werkstatt, aber ich fühle mich wie im ersten Arbeitsmarkt.« Was für Daniel Barthen zu diesem neuen Lebensgefühl verholfen hat, war eine Neuorganisation in seiner Werkstatt.

Konsequente Selbstverwaltung mit weitreichenden Konsequenzen

Die »Werkstatt am Musikantenweg« gehört zu den Werkstattbetrieben der Frankfurter Werkgemeinschaft. Die mit 90 Plätzen relativ kleine WfbM teilte sich eine Sekretariatsgruppe samt Fachkraft mit einer anderen Zweigwerkstatt. Diese zog in einen 30 Minuten entfernten Neubau und das Sekretariat am Musikantenweg war verwaist, einschließlich der Telefonzentrale. Eine interne Lösung musste her und das Personal entschied sich für einen ungewöhnlichen Weg: Werkstattbeschäftigte sollen das Konzept der »Juniorfirma« realisieren. Sie sollten eine Firma in der Firma gründen, die die anstehenden Aufgaben selbstorganisiert, ohne die Anleitung einer Fachkraft, bewältigte.

Der Plan ging auf. Nach einer Qualifizierung mit Elementen des Ausbildungsgangs »Kaufleute im Büromanagement« und einem Training on the Job übernahmen sieben Personen im Schichtdienst und in Teilzeitform die Sekretariatsaufgaben, vom Telefondienst über die Kassenführung und die Hauspost bis hin Fahrkartenabrechnung. Neue Aufgaben kamen hinzu, z.B. Materialbestellungen und die Betreuung einer einrichtungsweiten Online-Bibliothek und mittlerweile haben andere Sekretariate der Werkgemeinschaft schon Lösungen der Juniorfirma übernommen.

Das wichtigste Entwicklungspotential in der WfbM - weitgehend ungenutzt

Die Erfolgsgeschichte des selbstverwalteten Sekretariats stellten Werkstattleiterin Simone Kaden und Daniel Barthen gemeinsam mit dessen Teamkollegen Marcel Beythien, Astryd Fabian und Leon Neukirchinger auf der 53° NORD-Sozialdiensttagung vor, die Ende Juni in Frankfurt stattfand. Ihr Titel lautete: »Verantwortungsübernahme von WfbM-Beschäftigten in der Produktion«. Die Zielsetzung der Veranstaltung beschrieb in ihrem Eröffnungsvortrag Renate Windisch, Betriebsleiterin der IWL-Werkstätten in München. Sie legte dar, dass Werkstätten bisher trotz ihres gesetzlichen Auftrags und ihres Selbstverständnisses den entscheidenden Hebel zur Weiterentwicklung ihrer Beschäftigten ungenutzt lassen: Die Verantwortung für die Organisation und Durchführung von Produktionsaufträgen.

»Werkstätten arbeiten weitgehend nach dem tayloristischen Prinzip, in dem die Beschäftigten die Ausführenden sind, die vor- und nachgelagerten Tätigkeiten wie das Planen, Entscheiden oder Kontrollieren aber weitgehend von den Fachkräften ausgeführt werden. Gerade darin lägen jedoch die größten Chancen zur Verselbständigung.« Frau Windisch forderte eine Werkstattorganisation ein, die auf dem Teamgedanken basiert und den Beschäftigten mehr Verantwortungsübernahme ermöglicht.

Ihre eigene WfbM, die IWL-Werkstätten, so berichtet sie, haben Methoden aus der Industrie eingeführt, die diese Entwicklungen begünstigen und befördern. Dazu zählen »Lerninseln« in der Produktion, morgendliche Planungsmeetings zur Information und Aufgabenverteilung für alle und eine einheitliche Form der Visualisierung. Jeder IWL-Beschäftigte hat Zugang zum Internet und eine eigene E-Mail-Adresse. Der Betrieb verfügt über eine gute Ausstattung mit PCs und Tablets. Die IWL schult zudem Beschäftigte als interne Auditoren und setzt sie bei den Audits ein.

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Teilautonome Gruppen in Braunschweig und Rastatt

Wie eine konsequente Verantwortungsübergabe analog zur Frankfurter Juniorfirma »Selbstverwaltetes Sekretariat« ebenfalls aussehen kann, zeigten Tagungsbeispiele aus den Braunschweiger Werkstätten und aus den Murgtalwerkstätten in Rastatt. Beide Betriebe haben sich dem Ansatz der Teilautonomen Arbeitsgruppen verschrieben. In Braunschweig begann dieser Weg 2016 in einer Verpackungsgruppe.

Daniel Thuning berichtete, wie die Projektverantwortlichen die Absicht in die Tat umsetzten: »Wir teilten Arbeitsaufträge in Teilschritte auf, beschrieben sie exakt und befähigten die Gruppenmitglieder dazu, sie mit möglichst wenig Unterstützung zu organisieren.« Täglich würden die anstehenden Aufgaben nach einem festen Schema neu verteilt, die Leitung dieser Treffen wechsele reihum. Der Zeitbedarf für diese standardisierten Morgenrunden habe sich mit zunehmender Routine von anfangs 45 Minuten auf heute 5-10 Minuten verkürzt. »Die Gruppenleitung begleitet den Prozess. Sie ist aber nicht mehr Hauptakteur, Planer, Aufgabenverteiler und Kontrollierer, sondern hat die Funktion des Beobachters, Unterstützers und Coachs.«

Selbstbestimmung und Augenhöhe auch in anderen Arbeitsbereichen

In Braunschweig arbeitet mittlerweile auch der Küchenbereich im BBB nach dem Prinzip der Teilautonomie, wie Gruppenleiter und Koch Adrian Hamann berichtete. »Unser Speisenplan wiederholt sich alle zehn Wochen. Die BBB-Teilnehmer werden eingearbeitet und tragen gemeinsam Verantwortung für die Erstellung der Speisen. Als Gruppenleiter übernehme ich vor allem übergreifende Aufgaben wie die tägliche Warenbestellung oder die Erstellung der Hygienepläne.« Eindrucksvolle Filmbeispiele der Braunschweiger Referenten verdeutlichten das Ausmaß der Selbständigkeit, die die Gruppenmitglieder erreicht haben und die Bedeutung, die es für sie hat.

Die Murgtalwerkstätten haben sich schon 2006 für den Weg der Teilautonomen Gruppenarbeit (TAG) entschieden. Tagungsreferent Paul Birsens hat diesen Prozess damals als externer Berater begleitet und die WfbM dabei unterstützt, mehrere Arbeitsbereiche nach dem TAG-Prinzip zu organisieren. Auch hier definierten die Projektverantwortlichen ein geeignetes Vorgehen, basierend auf den arbeitspädagogischen Prinzipien von Prof. Grampp, ein Team übernahm jeweils die Verantwortung für die Abläufe, wurde qualifiziert und lernte, in der vorgegebenen Kommunikationsstruktur die Prozesse selbst zu steuern.

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Die InA-Coach-App, elektronische Hilfe zum selbstbestimmten Lernen

Neben den Praxisbeipielen autonomer und teilautonomer Gruppenarbeit bot die Tagung weitere Referate rund um das Thema Verselbständigung. Julia Nicklas stellte die InA-Coach-App vor, eine digitale Aufgaben-Assistenz, die die bekannte »miTAS-App« der Uni Dortmund weiterentwickelt hat. Finanziert wird diese Weiterentwicklung vom LVR-Inklusionsamt in Köln. Die App bietet eine Unterstützung bei der Schulung von Aufgaben unterschiedlicher Art für Personen, die Probleme mit der Schriftsprache haben und hilft bei der Umsetzung dieser Aufgaben. Sie ermöglicht es, Anleitungen einfach zu gestalten und mit Symbolen, Bildern und Filmen zu versehen. Zusätzlich bietet sie Checklisten und eine Überprüfungsfunktion, die ebenfalls leicht zu erstellen sind. Zurzeit lässt sich die App über Smartphones und Tablets nutzen, künftig auch über PCs.

Delia Ramcke von der Hamburger Arbeitsassistenz bestätigte aus ihrer Anwendungspraxis die einfache Bedienbarkeit des Programms und berichtete über die Einsatzfelder. Bei der Hamburger Arbeitsassistenz gehöre die App mittlerweile zu den Standard-Hilfsmitteln im Coaching. »Personen mit unterschiedlichen Einschränkungen können mit ihrer Hilfe Aufgaben eigenständig bewältigen«, so Delia Ramcke. Die App gibt es in einer Demoversion, aber auch die Vollversion ist kostenfrei nutzbar. Benötigt wird lediglich eine E-Mailadresse zur Registrierung. Die Internetadresse lautet https://ina.coach.

Produktions- und Betreuungsassistenten

Martin Hofmockel und Gabriele Schieseck von Werraland Lebenswelten e.V. in Eschwege berichteten von der Ausbildung und von der Schulung und vom Einsatz der Produktions- und Betreuungsassistenten in den Werraland-Werkstätten. Fünf Qualifizierungskurse hat es seit 2004 gegeben. Die Schulungen sind eine Form der internen Personalentwicklung und befähigen die TeilnehmerInnen zur Übernahme von Anleitungs- und Betreuungsaufgaben in Werkstätten oder Tagesförderstätten. Sie gehen jeweils über zwei Jahre. Im 14-tägigen Turnus umfassen sie einen halben Tag und beinhalten ein breites Themenspektrum. Knapp 50 Personen haben die Qualifizierung bisher durchlaufen und eine Tätigkeit als Produktions- oder Betreuungsassistenten aufgenommen. Zwei der AbsolventInnen wurden von der Werkstatt in Festanstellungen übernommen, einige sind auf den Arbeitsmarkt gewechselt.

Der »Schwarzwälder Hirsch«: Unmögliches wurde möglich

Besondere Aufmerksamkeit bei den Tagungsteilnehmern erzielte der Bericht von Melanie Haffner und Marc Diehm von der Akademie Himmelreich in Kirchzarten bei Freiburg. Unter der Überschrift »Nicht in Problemen, sondern in Möglichkeiten denken – die spannende Reise zu maximaler Selbständigkeit« berichteten sie über die Gastro-Qualifizierung und -Vermittlung der Akademie sowie über das Fernsehprojekt »Zum Schwarzwälder Hirsch« von dem Fernsehkoch Tim Mälzer, das im Hofgut Himmelreich gedreht und von der Akademie unterstützt wurde. Die Hofgut Himmelreich gGmbH ist Träger eines Inklusionsunternehmens und betreibt einen Gaststätten- und Hotelbetrieb. Angedockt ist die Akademie. Sie qualifiziert in einer Berufsvorbereitenden Maßnahme jährlich 10-15 Teilnehmer für den Gastronomiebereich und begleitet sie in Betriebe. Die Absolventen der Maßnahme gelten offiziell als »nicht ausbildungsfähig«, die Vermittlungsquote liegt bei sehr beachtlichen 77%.

Den Großteil ihres Vortrags widmeten die Referenten der viel beachteten Fernsehproduktion »Zum Schwarzwälder Hirsch«, die mit zwei Grimme-Preisen ausgezeichnet wurde. Melanie Haffner berichtete: »Auch wenn Verselbständigung und Autonomie zu den erklärten Zielen unserer Akademie gehören, haben wir die Beteiligung an diesem Projekt lange diskutiert. Zu abenteuerlich erschien uns die Zielsetzung. 13 überwiegend junge und gastronomieunerfahrene Menschen mit Down-Syndrom sollten nur zwei Monate lang in Küche und Service geschult werden und bereits im dritten Monat eigenverantwortlich eine Gaststätte führen.« Als Ausbilder war der Fernsehkoch Tim Mälzer vorgesehen, als Mentor und Ansprechpartner der Teilnehmenden fungierte der Schauspieler Andre Diez. Er ist Vater einer behinderten Tochter. Der Verlauf des Projekts wurde vom Produktionsteam in allen Details gefilmt. Das Ergebnis war im Herbst 2022 in drei Teilen von je 90 Minuten auf Vox zu sehen.

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Wege und Unterstützung in die Selbstständigkeit

Melanie Haffner: »Das Vorhaben gelang, wenn auch mit großen Einschränkungen. Die offizielle Eröffnung des Lokals entwickelte sich trotz aller Vorbereitung zum Flop. Das Projekt stand kurz vor dem Scheitern. Nach Umorganisationen, u.a. mit verkürzten Öffnungszeiten und verkleinerter Speisenkarte, spielten sich die Abläufe in der Folgezeit aber ein und ein Normalbetrieb wurde möglich.« Zu diesem relativen Erfolg hätten die intensiven Schulungen und die vielen Hilfsmittel beigetragen, die die Akademiemitarbeiter entwickelten. Die Referenten resümierten ihre Erfahrungen so: »Die TeilnehmerInnen gingen aus der Produktion mit vielen neuen Kompetenzen und gestärktem Selbstbewusstsein heraus. Uns hat das gezeigt, dass man manchmal Unmögliches denken muss, um Neues möglich zu machen und dass scheinbar feststehende Grenzen verschiebbar sind.«

Das Fernseh-Experiment »Schwarzwälder Hirsch« und die Tagungsbeispiele (teil-) autonomer Verantwortungsübernahme in der Werkstatt verbindet die Suche nach Entwicklungsmöglichkeiten, das Vertrauen darauf, dass Verselbständigung möglich ist. Der »Schwarzwälder Hirsch« wurde zu einer Herausforderung für die professionelle Behindertenarbeit, denn trotz der extrem kurzen Anleitungszeit war die Entwicklungskurve der TeilnehmerInnen erstaunlich steil und ihr Selbstwertgefühl wurde enorm gefestigt. Bei genauem Hinsehen war dieser Erfolg das Ergebnis von Zutrauen, guter Vorbereitung und didaktischer Unterstützung seitens der Qualifizierer sowie einer guten Arbeitsteilung der TeilnehmerInnen, bei der jeder seine Fähigkeiten einbringen konnte.

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Die Lehren aus der Tagung

Zurück zum selbstverwalteten Sekretariat in Frankfurt und zu Daniel Barthen. Auch ihm und seinen Mitstreitern hat Zutrauen und autonomes Arbeiten zu Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen verholfen, auch wenn nicht immer alles glatt verlief. In der Anfangszeit drohte das Experiment zu scheitern, weil eine Fachkraft mit einem Zeitkontingent einer 25%-Stelle als »Ausputzer« fungierte und die Mitarbeiter alle wichtigen Entscheidungen auf sie übertrugen. Erst als sie wirklich eigenverantwortlich waren, setzte die geschilderte Entwicklung ein. Die Fachkräfte waren zudem anfangs skeptisch, hatten Sorge um ihre Rolle. Ein weiteres Hindernis: Die IT-Berechtigung zur Kassenführung war laut Qualitätshandbuch nur dem Personal vorbehalten, was sich nur mit großem Aufwand ändern ließ. Heute ist der Erfolg der »Juniorfirma« für alle Beteiligten so offenkundig, dass Werkstattleiterin Simone Kaden schon die Ausweitung auf andere Arbeitsfelder ins Auge fasst. Sowohl der KLARE KURS als auch die BAG WfbM haben bereits im Vorfeld zum Thema »Verantwortung neu denken»« über das selbstverwaltete Sekretariat am Musikantenweg berichtet. Es besteht Hoffnung, dass die Verantwortungsübertragung in der Werkstattlandschaft zum Trend wird.

Die wichtigste Erkenntnis der Tagung lautete aber: Wollen Werkstätten diese Chance nutzen, müssen sie entschieden mutiger werden und ihre Organisationsstruktur ändern. Die gravierendsten Auswirkungen hat die Umorganisation für die Fachkräfte. Ihre Rolle ändert sich von der der Macher und Lenker zu der von Begleitern und Jobcoachs. Die Tagungsbeispiele zeigen, dass dies möglich ist. Daniel Barthen und sein Team haben es bewiesen und davon profitiert.

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