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Das eigene Können entdecken!

Wenn Klienten lernen, ihre Fähigkeiten zu sehen

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 24. Oktober 2022 |  John Webb | Textbeitrag

  Haltung, Wahlfreiheit und Selbsbestimmung, Kostenfreie Artikel, Gastbeitrag

Kürzlich hatte ich mit einem jungen Klienten namens Robert zu tun, der immer wieder beteuerte, dass er sehr daran interessiert sei, einen Job außerhalb der Werkstatt zu finden. Aber als ich ihn fragte, was für eine Art von Arbeit er sich wünscht, meinte er sehr bestimmt, dass wir gar nicht erst anfangen müssten, für ihn eine Arbeit zu suchen. Denn er hätte keine Fähigkeiten. Früher fand ich solche Kunden furchtbar frustrierend. Mit der Zeit habe ich jedoch festgestellt, dass wir – wenn ich den Klienten dazu bringen kann, mit mir zu reden – durchaus gemeinsam Fähigkeiten entdecken können. Und so war es auch bei Robert. Im Folgenden findet sich eine gekürzte Abschrift eines Teils unserer ersten Sitzung.

John Webb: Ich verstehe, dass Du – so wie Du es siehst – keine Fähigkeiten hast. Und es könnte sein, dass Du Recht hast. Aber das glaube ich nicht. Ich habe in den letzten Jahren mit vielen Menschen zusammengearbeitet, die so dachten wie Du. Und nachdem wir ein wenig zusammengearbeitet hatten, entdeckten wir gemeinsam immer, dass sie über Fähigkeiten verfügten, die sie vorher nur nicht gesehen hatten. Wärst Du bereit, es mit mir gemeinsam zu versuchen, ob wir nicht auch bei Dir Fähigkeiten finden?

Klient: Ja, wenn Du willst, dann mache ich mit. Aber ich kann dir jetzt schon sagen, dass wir nichts finden werden.

Okay – wie ich schon sagte, Du könntest Recht haben. Aber hier ist die Methode, die ich kenne. Wir fangen gemeinsam an, nach ganz bestimmten Erinnerungen zu suchen. Erinnerungen, die ein bisschen besonders sind: Wir suchen nach Erinnerungen, in denen Du versucht hast, etwas zu erreichen. Das Besondere ist, dass Du es geschafft hast und mit dem Ergebnis zufrieden warst. Wenn Du an die Situation zurückdenkst, kannst Du dich auch daran erinnern, dass Du es gerne getan hast. Es war ein gutes Gefühl, das zu tun.

Siehst Du? Ich habe es dir gleich gesagt. Ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben noch nie etwas zustande gebracht.

Nun, ich glaube, im Moment reden wir beide über zwei verschiedene Dinge. Du denkst an große, dramatische Dinge, und ich denke an kleine Dinge, alltägliche Dinge. Aber dennoch, Dinge, die Du zustande bringen wolltest und es dann auch noch geschafft hast. Was hast Du letzte Woche getan?

Nichts Besonderes. Ich bin zur Arbeit gegangen. Habe Fernsehen geguckt.

Und Gestern? Was hast Du gestern gemacht?

Eigentlich das Gleiche. Oh, außer, dass mein Onkel Paul gestern Geburtstag hatte und meine Mutter ihn zum Essen eingeladen hat. Ich glaube, das war schon etwas Besonderes.

Und hast Du dabei gekocht?

Nee... meine Mutter kocht immer.

Und hast Du vielleicht beim Einkaufen geholfen, um Sachen für das Essen zu besorgen?

Nee... das macht auch meine Mutter.

Also hast Du dich im Grunde genommen nur hingesetzt und gegessen?

Naja, sie hatte mich gebeten, den Tisch zu decken, und das habe ich getan. Aber ich meine, alles was ich gemacht habe, war eben nur den Tisch zu decken.

Ok, aber hast Du versucht, es schön aussehen zu lassen?

(fast aufbrausend) Es sah WIRKLICH schön aus. Ich weiß schon, wie man einen Tisch deckt.

Und hat es Dir Spaß gemacht, den Tisch zu decken und ihn schön aussehen zu lassen?

(zögernd) Ja, ich denke schon. Ich meine aber, das ist keine große Sache. Jeder kann eigentlich einen Tisch decken.

Okay. Also, ich werde Dir ein paar Fragen jetzt zum Thema "Tisch decken gestern" stellen. Und was auch immer Du antwortest, werde ich es mir aufschreiben. Und danach werden wir beide zusammen schauen, was wir in Deinen Antworten finden. Bist Du soweit?

Ja.

Warum hat Deine Mutter gerade Dich gebeten, den Tisch zu decken?

Weil sie beschäftigt war, denke ich. Und weil sie weiß, dass ich es kann. Ich habe es schon tausend Mal gemacht.

Und was hast Du dabei als Erstes gemacht?

Ich musste den Tisch abräumen, weil da noch Sachen herumlagen. Zeitschriften. Zeitungen. Die Schlüssel meiner Mutter und ihre Brille. So etwas in der Art.

Und dann?

Ich konnte sehen, dass noch Krümel vom Frühstück auf dem Tisch lagen. Dafür haben wir einen kleinen Handfeger. Ich habe den Handfeger genommen und die Krümel weggefegt.
Wir benutzen immer Tischsets, also ging ich los und holte fünf Tischsets. Eines für jeden von uns und eines in der Mitte für das Gewürztablett.

Und dann?

Ich habe das Gewürztablett geholt (für Salz, Pfeffer, Öl, Essig und so) und es in die Mitte gestellt.

Und dann?

Ich habe 4 Gläser geholt und sie in die obere linke Ecke jedes Tischsets gestellt.

Und danach?

Ich holte die Teller aus dem Schrank, aber als ich ihn öffnete, beschloss ich, die guten Teller zu nehmen, weil es ja ein Geburtstagsessen war.

Du hast Dich also für die Spezialteller entschieden?

Ja. Ich habe vier davon herausgenommen und einen in die Mitte jedes Tischsets gestellt.

Und dann?

Ich ging zur Besteckschublade und holte vier Messer, Löffel und Gabeln heraus. Dann habe ich ein Messer und eine Gabel auf die rechte Seite jedes Platzdeckchens gelegt und einen Löffel auf die linke Seite. Dann holte ich das Gewürztablett und stellte es auf das Tischset in der Mitte. Und wir brauchten noch etwas zu trinken. Also ging ich zum Kühlschrank und holte eine Flasche kaltes Wasser und stellte sie auf den Tisch.

Also war der Tisch mit Tellern, Besteck, Gewürztablett, Gläsern und Wasser gedeckt?

Ja, aber dann fiel mir ein, dass meine Mutter für besondere Anlässen gerne Kerzen hat. Also ging ich ins Wohnzimmer und holte den Kerzenständer und die Kerzen aus dem Schrank. Dann musste ich neue Kerzen in den Kerzenständer stellen, weil die alten schon ziemlich abgebrannt waren. Und dann ging ich zurück in die Küche, um eine Schachtel Streichhölzer zu holen und sie neben den Kerzenständer zu stellen.

Und dann warst Du fertig?

Ja, im Grunde schon. Ich meine, der Tisch sah schön aus, und ich stand nur da und dachte nach, ob ich etwas vergessen hatte. Und dann fiel mir ein, dass ich die Servietten vergessen hatte. Also ging ich zurück in die Küche, um vier Servietten zu holen. Und dann erinnerte ich mich daran, wie meine Mutter die Servietten gerne faltet. Also faltete ich jede Serviette diagonal zu einem Dreieck und legte jede Serviette unter das Messer und die Gabel auf der rechten Seite des Tellers.

Und dann war ich wirklich fertig.

Fähigkeiten entdecken!

Dieser Teil des Gesprächs dauerte in etwa 12 Minuten. Jedes Mal, wenn Robert eine Frage beantwortete, schrieb ich seine Antwort auf. Als er fertig war, hatten wir eine kurze, schriftliche Version der Geschichte "Wie ich den Tisch für Onkel Pauls Geburtstag gedeckt habe". Ich erklärte Robert, dass wir die Geschichte, wenn sie einmal aufgeschrieben ist, gemeinsam durchgehen könnten. Dabei würden wir nach verschiedenen Arten von Fähigkeiten suchen und diese dann aufschreiben. Die erste Art von Fähigkeit, nach der wir suchten, waren Roberts Eigenschaften: Wörter, die beschreiben, wie er sich in der Situation verhalten hat und was an seinem Handeln das gezeigt hat.Diese Eigenschaften konnten wir entdecken:

Charakteristik

Link zur Geschichte

Verantwortungsbewusst

Er tat es selbst

Hilfsbereit

War bereit, seinen Teil zur Hilfe beizutragen

Ehrgeizig

Wollte es schön machen

Ordentlich

Alles sollte nur "so“ sein

Sauber

Tisch und Krümel 

Detailorientiert

Was kommt wohin?

Gründlich

Was könnte ich noch hinzufügen?

Ästhetisch

Was ist schön?

Einfühlsam

Was würde Mama gefallen?

Familienorientiert

Geburtstag ist etwas Besonderes

Rücksichtsvoll

Paul und Mama

Bei unserem zweiten Durchgang durch die Geschichte suchten wir nach Kenntnissen und Wissen, also nach Sachen, die Robert gewusst haben musste, um das zu tun, was er tat. Diese waren unsere Ergebnisse.

Wissen / Kenntnisse

Link zur Geschichte

Wie ein gedeckter Tisch aussieht

Was ist angemessen?

Besteck

Was gehört wohin?

Geschirr

Was ist besonders?

Wo die Dinge in der Küche stehen

Besteck, Geschirr, Gläser

Was sieht schön aus

Kerzen, Servietten

Vorlieben der Mutter

Kerzen, Servietten

Pauls Bedürfnisse

Wasser

Und schließlich haben wir uns auf die Suche nach Action Skills gemacht, also nach Wörtern, die die Aktivitäten beschreiben, die Robert tatsächlich und eigenständig ausgeführt hat. Hier unsere dritte Ergebnistabelle:

Handlungskompetenzen

Link zur Geschichte

Aufräumen

Besen und Krümel

Einsammeln

von Geschirr, Gläsern

Anordnen

von Tellern, Besteck, Platzdeckchen

Vergleichen

Tellerarten

Erkennen von Mustern

Messer und Gabeln auf der rechten Seite

Visualisieren

Wie der Tisch aussehen soll

Sich selbst überprüfen

ob etwas fehlt?

Planen, vorausdenken

Streichhölzer für Kerzen

Vorbereiten

Falten der Servietten

Entscheiden, eine Auswahl treffen

Welche Teller verwendet werden sollen?

Leute unterbringen

Servietten und Wasser

 Das bisschen Reden und Geschichten-Erzählen wird Roberts Leben nicht wirklich verändern. Der Gedanke "Hmmmm... vielleicht habe ich ja doch ein paar Fähigkeiten" festigt sich bei den eher skeptischen Klienten oft erst nach sieben oder acht (oder noch mehr) solcher Sitzungen. Aber mein Gefühl sagt mir, dass Robert von unserer Sitzung schon ein bisschen beeindruckt war. Wenn es stimmt, dass wir in etwas so Einfachem wie "Tisch decken" Fähigkeiten finden können, was könnten wir dann in anderen, komplexeren (aber immer noch alltäglichen) Situationen finden, wie dem "Rasenmähen" oder dem "Entfernen einer Zecke aus seinem Hund"?

Nach nur einer Sitzung war Robert keineswegs ein geübter Fähigkeitssucher geworden, aber das musste er auch nicht werden. Mir reichte es, dass er sich für die Idee öffnete, dass er „vielleicht ein paar Fähigkeiten hat, die er bisher nicht gesehen hatte". Dass der Grund, warum er seine Fähigkeiten nie zuvor gesehen hatte, hatte nicht - wie er vorher meinte – damit zu tun, dass er keine Fähigkeiten hat. Es hatte alles mit der Tatsache zu tun, dass ihm niemand je beigebracht hatte, wie er nun suchen konnte.

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