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Die falsche Seite des Schreibtisches. Über ein „Sie“ und ein „Wir“.

Ein Gastkommentar von Cornelia Schmitz, XBlog der Alexianer Werkstätten

Bild Die falsche Seite des Schreibtisches. Über ein „Sie“ und ein „Wir“.

 13. März 2024 |  Cornelia Schmitz

  Kostenfreie Artikel, Gastbeitrag, Kommentar

»Psychisch kranke und behinderte Menschen mögen anders denken, fühlen, handeln – sie sind jedoch nicht anders geartet…« Dieses Zitat, das eine scharfe Grenze zieht zwischen „uns“, den psychisch Kranken, und „denen“, den „Normalen“ also, stammt von Christof Streidl (1939-1992). Streidl war Gründungsmitglied der Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie Frankfurt am Main e.V. und der Zeitschrift »Treffpunkte«; (Zitat veröffentlicht ebenda.)

Ich habe den Spruch ungefähr im Jahr 2012 gelesen. Zu dem Zeitpunkt arbeitete ich auf einem betriebsintegrierten Arbeitsplatz, und zwar bei einer NGO, die sich mit sozialpsychiatrischen Fragen beschäftigt. (Sozialpsychiatrie behandelt die Bedeutung von Umgebungsfaktoren für die seelische Gesundheit – z.B. soziale und kulturelle Umstände. Wenn man so will, ist die Sozialpsychiatrie eine Reformpsychiatrie.)

Als ich das Zitat las, schrieb ich entsetzt einen Leserbrief, doch mein Anliegen wurde nicht einmal im Ansatz verstanden: Mir ging es um die äußerst exkludierende Teilung in „anders“ und „nicht anders.“  Die Redaktion aber, schrieb ausführlich über den Begriff „geartet“ zurück, der im Wortlaut eine gewisse Verwandtschaft mit dem Wort „entartet“ aufweist. Und „entartet“ stammt aus der Nazi-Zeit. Sie wiesen also reflexhaft jede Nähe zum Faschismus zurück. Allerdings sahen sie überhaupt nicht, was mich so gestört hatte: die Idee nämlich, „wir“ wären so komplett anders als „die“. Das Zitat stellt die Frage, ob wir quasi eine andere Spezies wären und beantwortet sie mit nein. Aber unterschiedlich, ganz ganz unterschiedlich, seien wir schon: im Denken, Fühlen und Handeln.

Und so hat man damals gedacht, das galt vor 10 Jahren als fortschrittlich, es war lieb gemeint, so wollte man „uns“ re-integrieren.

Klingt lange her, ist es aber nicht.

Denn noch heute erlebe ich, unter anderem in der WfbM, in der ich arbeite, eine deutliche Trennung von „uns“ und „denen“: eine Trennung in Klienten und Profis also.

In meiner Werkstatt, (die ich im Grunde gut finde), wird fein auf die Unterscheidung geachtet: Profis und Klienten müssen sich siezen, unter Androhung von Konsequenzen für den angestellten Mitarbeiter, der sich darüber hinwegsetzen möchte. (Dieses Gebot kommt aus einer dunklen Zeit, als behinderte oder seelisch kranke Menschen einfach respektlos geduzt wurden und ihrerseits die „Wärter“ zu siezen hatten. Die Regel des unbedingten Siezens ist also als Zeichen des Respekts uns gegenüber gut gemeint gewesen, schlägt aber nun um in eine neue Barriere – die der strikt einzuhaltenden Distanz zu den Profis.)

Liebesbeziehungen oder Freundschaften zwischen Angestellten und Beschäftigten sind ebenso strikt verboten. Es mag geduldete Ausnahmen geben, doch im Prinzip ist die Regel eisern. Es gab (oder gibt noch in manchen Bereichen?) sogar getrennte Toiletten: Für die Angestellten und die Beschäftigten.

Wir alle miteinander ziehen also nicht an einem gemeinsamen Strang – dem der Arbeit – sondern wir, die Beschäftigten, sind bereits die Arbeit der angestellten Mitarbeiter.

Auch, als ich noch bei der vorhin erwähnten NGO arbeitete, war der Unterschied deutlich spürbar: Man bot mir nur sehr spät und zögernd das Du an, ich erhielt sehr spät einen Schlüssel für die Räumlichkeiten, ich wurde bei Tagungen nach einem anfänglichen „Du“ sogar wieder gesiezt, als mein Gegenüber erfuhr, dass ich „betroffen“ war. Es gipfelte in dem Spruch einer Kollegin: Die wurde nämlich gefragt, wie viele Mitarbeiter in der Geschäftsstelle der Organisation arbeiteten. Und sie antwortete folgendes: „Wir sind hier vier. Und Cornelia“.

Kann man sich vorstellen, wie blöd ich mir in dieser Situation vorkam?

Vom weithin bekannten und geachteten, mittlerweile verstorbenen Sozialpsychiater Klaus Dörner stammt (mit anderen gemeinsam) sein sozialpsychiatrisches Hauptwerk, nämlich das Buch: „Irren ist menschlich“.

Dörner hat sich sehr für „die Betroffenen“ eingesetzt, doch auch in seinem Buch wird streng unterschieden; schon in den Kapitelunterschriften: Diese lauten etwa: „Der sich und anderen helfende Mensch“ (Sozialprofis) und dann: „Der sich und andere behindernde Mensch“ (Lernbehinderte) oder auch „Der sich und andere niederschlagende Mensch“ (Depressive). Man sieht also schön, wie der helfende Mensch „uns“ die Hand reicht – ich bin versucht zu sagen, die Hand hinunter reicht.

Denn diese Denke scheint mir von „uns“ als einem Objekt auszugehen und nicht von einem Subjekt. Wir sind das Patientengut, das Arbeitsmaterial, der Rohstoff, wir sind die Grenze zwischen Arbeit und Feierabend.

Und so fühle ich mich stets auf der falschen Seite des Schreibtisches.

Die von vielen Profis so beschworene, und von vielen Klienten erwünschte Augenhöhe – kann es sie unter diesen Umständen überhaupt geben?

All das verstärkt im Übrigen mein starkes Trauma; ich habe die Psychiatrie so oft, und immer wieder, als Allmachtsinstitution empfunden, in denen ich den Profis ausgeliefert war. Meistens waren es wohlmeinende Profis, doch das änderte gar nichts an dem Gefühl, dass Andere über mich bestimmten, und ich nicht Herrin meines eigenen Schicksals war.

Ausblick?

In den Köpfen vieler – auch in meinem eigenen Kopf – müsste die Psychiatrie, müssten die Einrichtungen für psychisch Erkrankte durchlässiger werden. Sehr viele Menschen sehen in ihrem Leben den Psychiater oder den Psychologen, es ist fast ein Drittel der Bevölkerung, die Zahl dürfte seit Corona noch deutlich gestiegen sein. Eine psychische Erkrankung ist also völlig „normal“, genau so normal wie eine entsprechende körperliche Erkrankung. Und doch empfinde ich mich als „gelabelt“, klebt mir gefühlt ein Etikett an der Stirn, fühle ich mich chronisch krank.

Es würde helfen, wenn die Leute (und ich selbst auch) diese Art von Erkrankung als etwas Vorübergehendes, und nicht als etwas Chronisches, für immer Bleibendes sehen könnten. Es würde helfen, wenn man so munter (und beiläufig) davon erzählen könnte wie von seinem Bluthochdruck. Es würde helfen, wenn im Arbeits- und im Liebesleben der Blick auf seelische Erkrankungen ein anderer wäre.

Es würde helfen, wenn eine WfbM keine Endstation wäre, wie in den meisten Fällen, sondern eine Durchgangsstation, in der man die Menschen mit ihren vorübergehenden Störungen individuell förderte und wieder für den ersten Arbeitsmarkt fit macht.

Wie seht Ihr, wie sehen Sie das? Kommentare zu diesem Betrag können Sie auf dem XBlog hinterlassen.

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