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TAGs: Verantwortung, Kompetenzen, Selbstbewusstsein

Die Praxis teilautonomer Arbeitsgruppen

Bild TAGs: Verantwortung, Kompetenzen, Selbstbewusstsein

 20. Mai 2025 |  Dieter Basener | Textbeitrag

  Weiterentwicklung der beruflichen Teilhabe, Veranstaltungsrückblick

In der Veranstaltungsreihe "Lokaltermin" von 53° NORD trafen sich am 6. und 7. Mai 2025 Fachkräfte und Beschäftigte aus WfbM, um ein zukunftsweisendes Konzept zur Organisation von Produktionsaufträge in WfbM zu erkunden: die Teilautonome Arbeitsgruppe, kurz TAG. Die Elbe-Werkstätten öffneten gleich an zwei verschiedenen Standorten ihre Türen und zeigten, wie Beschäftigte durch eigenverantwortliches Arbeiten nicht nur ihre Kompetenzen erweitern, sondern auch Selbstbewusstsein und Motivation gewinnen. Die zweitägige Veranstaltung bot Einblicke in die TAG-Praxis, lebhafte Diskussionen und eine Antwort auf die Frage: Wie gelingt es, traditionelle Hierarchien in Werkstätten aufzubrechen und Partizipation zu leben? Noch stecken die Elbe-Werkstätten bei diesem Thema selbst in der Entwicklung. Erst gut zehn Prozent ihrer Arbeitsgruppen arbeiten nach dem TAG-Prinzip. Die Erfolge ermutigen aber zunehmend selbst anfängliche Skeptiker unter den Fachkräften, mit ihren Gruppen diesen Sprung zu wagen.

Prinzipien, Werkzeuge und Qualifizierungswege des TAG-Konzepts

Das TAG-Konzept der Elbe-Werkstätten definiert die Rollen von Fachkräften und Beschäftigten neu. Betriebsleiterin Birgit Krönke nannte zu Beginn der Tagung seine Prinzipien:

  • Selbstorganisation: Die Gruppe plant und steuert Arbeitsprozesse eigenständig.
  • Job-Enlargement: Ausweitung von Aufgaben auf derselben Schwierigkeitsebene.
  • Job-Enrichment: Übernahme erweiterter Verantwortung, etwa in Planung und Kontrolle.
  • Job-Rotation: Regelmäßiger Wechsel der Tätigkeiten zur Kompetenzerweiterung.
  • Besprechungskultur: Strukturierte Meetings, wie die morgendliche Aufgabenverteilung oder der Austausch in wöchentlichen Gruppenbesprechungen. Sie werden moderiert von den "Teamassistenten", die in der TAG-Konzeption eine zentrale Rolle spielen.  

Zu den wesentlichen Werkzeugen der Teilautonomen Arbeitsgruppen gehören das Teamboard und die Kompetenzmatrix. Das Teamboard bildet den "workflow" der Arbeitsgruppe ab und hält fest, welche Arbeitsaufgaben ein Auftrag umfasst und wer gerade daran arbeitet. Die Kompetenzmatrix dokumentiert, wer welche Fähigkeiten besitzt. Sie bildet die Grundlage für die Qualifizierungsbedarfe der Beschäftigten und die Job-Rotation.

Für den Qualifizierungsbedarf der Teilautonomen Arbeitsgruppen, aber auch für die Qualifizierungsanforderungen der anderen Beschäftigten, bieten die Elbe-Werkstätten unterschiedliche Qualifizierungswege an. Dazu gehören zentrale Fortbildungen, über die u.a. die Teamassistenten geschult werden. Die Qualifizierung in den Arbeitsgruppen decken Vor-Ort-Anleitungen ab, organisiert nach dem Lerninsel-Prinzip. Diese Anleitungen übernehmen Peer-Mentoren. Eine weitere Möglichkeit sind E-Learning-Tools, die direkt am Arbeitsplatz per Tablet oder Handy über QR-Codes abrufbar sind.

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Timo Reinke, mit Christine Kropp

Tag 1: Einblick in einen Betrieb für psychisch Erkrankte

Der erste Veranstaltungstag führte die Teilnehmenden in den Betriebsteil ReTörn, der auf die Arbeit von Menschen mit psychischen Erkrankungen spezialisiert ist. Timo Reinke, Teamassistent im Betrieb ReTörn, schilderte eindrücklich, wie die TAG sein Arbeitsleben verändert und seine Rolle ihn gestärkt hat: "Ich habe eine wichtige Aufgabe übernommen und bin mit meiner Verantwortung gewachsen. Mein Selbstbewusstsein ist gestiegen, ich fühle mich akzeptiert und anerkannt." Seine Rolle umfasst Organisationsaufgaben wie die morgendliche Arbeitseinteilung, während beispielsweise Konfliktlösungen weiterhin bei der Gruppenleitung liegen. "Wir verstehen uns als ein gemeinsames Team", betonte er – ein Leitgedanke der Teilautonomen Gruppenarbeit, der sich durch alle Präsentationen zog.

Herausforderungen und Erfolge

Die Fachkräfte Hauke Evers und Kathrin Schröder berichteten offen über die Herausforderungen, die mit der Einführung der teilautonomen Gruppenarbeit verbunden sind. Hauke Evers leitet eine Gruppe im Bereich Verpackung und Konfektionierung, die u.a. Aufträge aus dem Bereich Medizintechnik bearbeitet. Kathrin Schröder hat die Leitung einer Küchengruppe. Beide betonten, dass der Übergang zu diesem neuen Arbeitsmodell eine intensive Anfangsphase mit erhöhter Arbeitsbelastung erfordert. Besonders die klare Abgrenzung der Rollen von Teamassistenten und Gruppenleitern sei wichtig, um Missverständnisse zu vermeiden.

Christine Kropp vom Fachdienst für Fortbildung und Entwicklung ergänzte, dass diese Abgrenzung und die Beschreibung der Rolle und der Aufgaben von Teamassistenzen auch ein wichtiger Bestandteil der Einführungsschulungen für angehende Teamassistenten sei und in den Folgeseminaren ebenfalls aufgegriffen werde. "Neben den Teamassistenzen werden auch die kompletten Gruppen selber sowie das Fachpersonal in den Prinzipien und Auswirkungen der Teilautonomen Arbeitsgruppen geschult."

Hauke Evers schilderte, dass seine Gruppe anfangs Schwierigkeiten hatte, die neuen Strukturen mit Leben zu füllen, mittlerweile aber von dieser Arbeitsweise profitiert. Seine Gruppe gehörte 2018 zu den ersten, die das TAG-Prinzip eingeführt haben. Er zerstreute auch Befürchtungen, das Arbeitsergebnis könne durch die Umorganisation leiden: "Im Gegenteil, unsere Produktivität ist sogar gestiegen." Eine Erfahrung, die er mit anderen TAG-Gruppen teilt.

Bild TAGs: Verantwortung, Kompetenzen, Selbstbewusstsein
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Tag 2: Praxisdemonstration am Nymphenweg: Teamentwicklung in der Werkstatt

Der zweite Tag führte die Besucher*innen in den Betrieb Elbe-Süd mit seinem Standort am Nymphenweg. Hier stand u.a. ein Einblick in die Praxis der TAG auf dem Programm – für viele Teilnehmende ein Höhepunkt der Veranstaltung.

Sigrid Wollmann, Leiterin des Reha-Bereichs, definierte das Ziel klar: "Die TAG soll die Beschäftigten stärken und sie soll die Fachkräfte entlasten, um mehr Raum für Rehabilitation zu schaffen." Die Besucher*innen erlebten in zwei Gruppen, wie dies in der Praxis umgesetzt wird:

  • Logistik und Lagerhaltung: Das Team um Alexandra Calder demonstrierte die Lagerhaltung und den europaweiten Versand von Merchandising-Artikeln für fritz cola – organisiert nach dem TAG-Konzept.
  • Eigenproduktion "Guttasyn": Auch die Herstellung und der Vertrieb von Arbeitsschutzschürzen der Eigenmarke "Guttasyn" erfolgt in einem transparenten Prozess, bei dem Beschäftigte wesentliche Schritte vom Auftragseingang bis zur Qualitätskontrolle und zum Versand übernehmen.

Beeindruckt zeigten sich die Besucher*innen nicht nur von der klaren Aufgabenstrukturierung und von der Selbständigkeit, mit der die Gruppen ihre Aufträge abarbeitet. Die Beschäftigten glänzten auch mit einer selbstbewussten Präsentation der Tätigkeiten und Prozesse.

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Die Rolle der Fachkräfte: Vom Anleiter zum Begleiter

Die Betriebsleiterinnen Birgit Krönke und Sigrid Wollmann betonten übereinstimmend die veränderte Rolle der Fachkräfte: "Die tägliche Arbeitsorganisation liegt bei den Teams. Die Fachkräfte tragen weiterhin die Gesamtverantwortung für die Quantität und Qualität der Arbeitsergebnisse, in der täglichen Arbeit treten sie aber in den Hintergrund und richten ihr Augenmerk verstärkt auf die Reha-Planung oder gruppendynamische Herausforderungen."

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Innovative Lernmethoden

Andreas Seeger vom Fachdienst Fortbildung und Entwicklung präsentierte die Weiterentwicklung der Vor-Ort-Qualifizierung mit den Lerninseln – hier heißen sie "Elbinseln". Sie stellt die zunehmend moderne Technik und Barrierefreiheit in den Vordergrund: "Lesestifte, die Texte vorlesen, oder Videoanleitungen per QR-Code machen Lernen zugänglicher." Sein zentrales Fazit aus der Entwicklung der Elbinseln: "Die Beschäftigten sind die besten Experten in eigener Sache. Wir mussten zuerst lernen, sie in die Ausgestaltung einzubeziehen und ihnen zuzuhören."

Übertragbarkeit und Perspektiven

Ein zentraler Diskussionspunkt der Tagung war die Frage, ob und wie das TAG-Prinzip auf andere Werkstätten übertragbar ist. Birgit Krönke berichtete, dass die Elbe-Werkstätten vom TAG-Konzept des Behindertenwerks Main-Kinzig profitiert haben. Und sie gab den Besucher*innen wertvolle Hinweise, wie ein solcher Transformationsprozess gelingen kann. Neben Besuchen in bereits etablierten TAG-Werkstätten und der Adaption bestehender Konzepte sei vor allem die Unterstützung der Werkstattleitung entscheidend für den langfristigen Erfolg. Auch die Einbindung aller Beteiligten und eine klare Rollenverteilung seien entscheidende Erfolgsfaktoren.

In der Abschlussdiskussion resümierten die Gäste:

  • "Ein Modell mit Strahlkraft"
  • "Die TAG zeigt, wie der Team-Gedanke in der Werkstatt funktionieren kann, wenn die Leitung mitzieht."
  • "Beeindruckend, wie die Motivation durch Eigenverantwortung steigt. Die kollegiale Atmosphäre war deutlich spürbar."
  • "Der Praxiseinblick am Nymphenweg hat mich überzeugt: Das Modell ist übertragbar, wenn man die richtigen Rahmenbedingungen schafft."
  • "Für mich ist entscheidend, auch Leistungsschwächere in das TAG-Team zu integrieren."
  • "Um die Abhängigkeit von der Fachkraft erst gar nicht entstehen zu lassen, sollte man mit dem TAG-Konzept schon im Berufsbildungsbereich beginnen."
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Fazit: Mehr als eine Arbeitsmethode – eine Haltungsfrage

Die Teilautonome Arbeitsgruppen bei den Elbe-Werkstätten sind kein bloßes Organisationskonzept, sondern ein kultureller Wandel, der immer mehr Betriebsteile erfasst. Sie beweisen, dass die Übernahme von Verantwortung durch Beschäftigte nicht nur möglich ist, sondern dass sie die klassische Hierarchie in Werkstätten aufbricht und ein neues Rollenverständnis fördert. Beschäftigte erleben mehr Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeit, was nicht nur ihre beruflichen, sondern auch ihre sozialen Kompetenzen stärkt. Nicht zuletzt kann das TAG-Konzept auch die Produktivität steigern und Fehlerquoten senken.

Der Satz von Teamassistent Timo Reinke, "Wir sind ein Team", kennzeichnet wohl am klarsten die Bewusstseinsveränderung des Konzepts. Dieser Teamgeist ist prägend für die Teilautonomen Arbeitsgruppen der Elbe-Werkstätten und macht sie zu einem Vorbild für Werkstätten bundesweit. Die Tagung zeigte: Wenn traditionelle Werkstatthierarchien fallen, entsteht Raum für Verantwortungsübernahme und Entwicklung und letztlich ein gemeinsamer Stolz auf das Erreichte.
 

Zum 53° NORD-Seminar
"Wenn Werkstattbeschäftigte Arbeitsaufträge selbst steuern."
Durch teilautonome Gruppenarbeit (TAG) zu mehr Selbstverantwortung, Selbstwirksamkeit und Wirtschaftlichkeit

 

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